Das Bundesteilhabegesetz (BTHG)

Der Umsetzungsmotor stottert

Fast acht Jahre sind vergangen, seit mit Inkrafttreten der ersten Stufe des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) im Sommer 2017 das neu geschaffene Teilhaberecht für Menschen mit Behinderung Gestalt annehmen sollte. Der im Februar 2025 vom Bundessozialministerium veröffentlichte Evaluationsbericht zur BTHG-Umsetzung dokumentiert jetzt die in der Eingliederungshilfe allenthalben spürbare Ernüchterung: Weil Kostenvorbehalte schwerer wiegen als Selbstbestimmung und Personenzentrierung, ist in diesen zentralen Punkten bislang wenig erreicht.

Droht das Innovationspotenzial des Bundesteilhabegesetzes zu verpuffen? Weil die Kassenlage der öffentliche Haushalte angespannt ist? Die Verhandlungen von Rahmenverträgen in den Ländern sich zäh gestaltet? Und der zunehmende Personal- und Fachkräftemangel bei den Leistungserbringern die avisierte personenzentrierte Umgestaltung des Leistungsgeschehens zusätzlich immer schwerer umsetzbar macht? Liest man die Schlussfolgerungen aus dem jüngst vom Bundessozialministerium vorgelegten Evaluationsbericht zum Stand der Umsetzung des BTHG liegt dieses Fazit nahe.

Die Zielsetzung des BTHG, die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen durch eine personenzentrierte Leistungserbringung zu stärken, finde zwar „breite Unterstützung“ bei Betroffenen, Leistungsträgern und Leistungserbringer heißt es etwa auf Seite 23 dieses Berichts. Zugleich jedoch zeige sich „eine noch nicht hinreichende Realisierung dieses Zieles. Zwar stellten die genannten Gruppen ein „neues Denken“ und auch tatsächlich gestiegene Selbstbestimmungsmöglichkeiten für Teile der Leistungsbeziehenden fest. Gleichzeitig aber habe sich „für viele Menschen wenig verändert“, stellt der Bericht fest. Die Verwaltung der Leistungen werde „vielfach als aufwendiger kritisiert. Das innovative Potenzial des BTHG gilt unter Leistungsträgern und -erbringern dabei weiterhin als nicht ausgeschöpft“.

Die Verfasser:innen des Berichts, für den die vom Ministerium beauftragten Institute infas und ISG verantwortlich zeichnen, stellen „übergreifende Umsetzungsprobleme und -hemmnisse in fast allen „Regelungsbereichen“ fest. Zu nennen seien hierbei vor allem „stockende Verhandlungen zwischen Leistungsträgern und Leistungserbringern zu den Rahmenverträgen und Leistungsvereinbarungen. Die Folge: Mitte 2024 hatte nur ein Drittel der Leistungserbringer in allen Leistungsbereichen neue Leistungsvereinbarungen. Eine mögliche Ursache für diesen ernüchternden Status quo liefern die Verfasser:innen mit: Das entscheidende Hindernis in den Verhandlungen scheine zu sein, „dass die BTHG-Reform vielerorts ,budgetneutral‘ umgesetzt werden soll. Dies hielten viele Leistungsträger „angesichts fiskalischer Belastungen für unumgänglich, während es Leistungserbringer und Personen aus der Selbstvertretung als widersprüchlich kritisieren, eine stärkere Personenzentrierung zu fordern, aber Kostensteigerungen auszuschließen.“ Dieser Konflikt werde verschärft durch „die unabhängig vom BTHG stark steigenden Kosten in der Eingliederungshilfe“.

Verbände appellieren an künftige Bundesregierung

Die Veröffentlichung des Evaluationsberichts nahmen u.a. die fünf Fachverbände der Behindertenhilfe zum Anlass, an die zukünftige Bundesregierung zu appellieren, die Zielsetzungen des Bundesteilhabegesetzes endlich tatkräftig umzusetzen und das Gesetz weiterzuentwickeln. Sie monieren, dass das BTHG bis heute „nur halbherzig umgesetzt“ werde. Die Umsetzungsbegleitung habe gezeigt, dass die Leistungen „nicht immer bei den Menschen mit Behinderung ankommen. Dies stehe nicht im Verhältnis zu den personellen Ressourcen, die bei Leistungsträgern und Leistungserbringern eingesetzt würden. Hier bestünden Einsparpotenziale, „die gebraucht werden, um die Ziele des BTHG zu erreichen“, so die Analyse der Verbände.

Deutlich aktiver müssten Bund und Länder werden, um das Versprechen auf mehr Teilhabe endlich mit dem Reformgesetz einzulösen, mahnen die Verbände und formulieren hierzu Vorschläge und Forderungen zur Weiterentwicklung der Leistungen für Menschen mit Behinderung. Dazu gehört u.a. die Forderung, dass die tatsächlichen Kosten der Unterkunft für Menschen mit Behinderung übernommen werden. Auch machen die Fachverbände konkrete Vorschläge für eine bürokratiearme und schnelle Gewährung der Leistungen. So soll die Stagnation bei der Umsetzung des BTHG überwunden werden, damit die Rechte von Menschen mit Behinderung gestärkt werden und Deutschland der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention näherkommt (Link: Briefvorlage Die Fachverbände Stand Oktober 2013).1

Einzelne der fünf Fachverbände machten darüber hinaus in gesondert veröffentlichten Verlautbarungen ihre Positionen zur Umsetzung des BTHG deutlich:

Die Lebenshilfe etwa unterstrich, dass Menschen mit Behinderung Leistungen zur Sozialen Teilhabe, wie Leistungen für Wohnraum, Assistenzleistungen und heilpädagogische Leistungen brauchten, die im Sozialgesetzbuch IX geregelt seien. Die „schleppende Umsetzung“ des Bundesteilhabegesetzes in den vergangenen Jahren habe „noch nicht dazu geführt, dass alle Leistungen zur Sozialen Teilhabe bedarfsgerecht und personenzentriert nach den Vorgaben des Gesetzes angeboten werden können“. Vor diesem Hintergrund fordert die Lebenshilfe:2

  • Der im Frühjahr 2025 veröffentlichte Abschlussbericht zur Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes muss von Bundesregierung und Bundestag wahrgenommen und ernsthaft diskutiert werden.
  • Der Bericht muss die Grundlage für Nachbesserungen der noch nicht oder bisher falsch umgesetzten Regelungen aus dem Bundesteilhabegesetz werden.
  • Dies gilt insbesondere in Bezug auf die bisher noch unzureichende Schaffung personenzentrierter Angebote zur Sozialen Teilhabe gerade auch für Menschen mit komplexen Behinderungen und hohen Unterstützungsbedarfen.

Die Diakonie Deutschland und der Evangelische Bundesfachverband für Teilhabe (BeB) begrüßten in einer Pressemitteilung vom 28. Februar 20253 die Veröffentlichung der Evaluationsergebnisse des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Ihrer Ansicht nach zeige die Evaluation, dass das BTHG „noch lange nicht vollständig umgesetzt ist und es große Unterschiede zwischen den Ländern gibt. Angesichts dieser Ergebnisse appellieren die beiden Verbände an die künftige Bundesregierung, die Umsetzung des geltenden Rechts im Dialog mit den Bundesländern zu beschleunigen. Folgende zentrale Erkenntnisse aus dem Bericht und Ansatzpunkte für Verbesserungen heben die beiden Verbände hervor:

  • Wunsch- und Wahlrecht: Das Wunsch- und Wahlrecht, insbesondere bei der Wohnform, ist oft nicht gegeben. Gewünschte Leistungen dürfen häufig nicht mehr kosten als alternative Angebote, was zu Interessenkonflikten führt.
  • Bedarfsermittlung und Gesamtplanung: Die neue ICF-basierte Bedarfsermittlung wird in den Ländern unterschiedlich angewendet und führt oft nicht zu den entsprechenden Leistungen. Dies gilt besonders für Menschen, die in besonderen Wohnformen, den früheren stationären Einrichtungen leben.
  • Kosten der Eingliederungshilfe: Die Evaluation zeigt, dass das Bundesteilhabegesetz bisher nicht wesentlich zu den Kostensteigerungen in der Eingliederungshilfe beigetragen hat.
  • Gesamteinschätzung: Zwischen dem sozialpolitischen Anspruch, der mit dem Bundesteilhabegesetz verbunden ist, und der Lebenswirklichkeit von Menschen mit Behinderung besteht nach wie vor eine große Diskrepanz. Leistungsträger und Leistungserbringer müssen diese Lücke zwischen Rechtanspruch und Realität gemeinsam schließen.

Die Evaluationsergebnisse zeigten, „dass das BTHG nachgesteuert werden muss“, sagte Christian Geyer, stellv. Vorsitzender des BeB. Der Nachteilsausgleich sei ein Rechtsanspruch, der der gleichberechtigten Teilhabe dient. „Stattdessen geht es nur noch um Ausgabedynamiken und den Ausbau der Bürokratie. Wir müssen sicherstellen, dass die Teilhabe im Fokus bleibt und gleichwertige Lebensverhältnisse im gesamten Bundesgebiet garantiert werden."

Teilhabe ist Menschenrecht

Zum Jahrestag des Inkrafttretens der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland erinnerte am 26. März 2025 auch das Deutsche Institut für Menschenrechte, dass die UN-BRK dazu verpflichtet, „ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen und stationäre Wohneinrichtungen für Menschen mit Behinderungen schrittweise zugunsten inklusiver und personenzentrierter Angebote wie der Persönlichen Assistenz abzubauen“. Das Institut fordert die Bundesregierung dazu auf, „gemeinsam mit den Ländern und den Kommunen die Hemmnisse bei der Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes zu beseitigen. Die Selbstbestimmung und das Wunsch- und Wahlrecht jedes Menschen müssen im Mittelpunkt der Leistungserbringung stehen und dürfen nicht durch Kostenerwägungen eingeschränkt werden“, so Britta Schlegel, Leiterin der Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechtskonvention des Instituts. Das Institut fordert die Entwicklung „einer Gesamtstrategie durch Bund, Länder und Kommunen mit konkreten Zielvorgaben zum Ausbau inklusiver Unterstützungsangebote. Dies muss unter Beteiligung der Freien Wohlfahrtspflege und vor allem auch in Kooperation mit Verbänden von Menschen mit Behinderungen als Expert:innen in eigener Sache geschehen.“4

In einem Eckpunkte-Papier5 formuliert das Menschenrechts-Institut deutlich, was hierzu schnellstmöglich u.a. auch in punkto Barrierefreiheit zu tun ist: „Um die Anforderungen aus Artikel 19 UN-BRK zu erfüllen, muss der Prozess der Deinstitutionalisierung für alle Menschen mit Behinderungen vorangetrieben werden. Dabei spielt die Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) eine zentrale Rolle. Eines der zentralen Ziele des Gesetzes besteht in einer stärkeren Personenzentrierung. Diese hat jedoch bisher nicht dazu geführt, dass ambulante Betreuungssettings und Angebote persönlicher Assistenz maßgeblich ausgebaut wurden. Außerdem mangelt es an barrierefreiem Wohnraum. In Deutschland sind derzeit nur etwa zwei Prozent aller Wohnungen so barrierefrei, so dass man dort auch wohnen kann, wenn man auf einen Rollstuhl oder Rollator angewiesen ist. Es fehlen über zwei Millionen barrierefreie Wohnungen, um allein den heutigen Bedarf zu decken.“

 

Personenzentrierung bleibt auf der Strecke

Bereits im November 2024 äußerte sich auch der Deutsche Behindertenrat (DBR) in einem Positionspapier6 sehr besorgt zum Umsetzungstand des BTHG und forderte, die Personenzentrierung der Leistungen der Eingliederungshilfe „nicht aus den Augen zu verlieren“. In einer umfänglichen Ursachenanalyse identifiziert der DBR als eines der Hindernisse, dass die BTHG-Umsetzung „vielfach nur als Aushandlungsprozess zwischen Kostenträgern und Leistungserbringern bei der Definition des Leistungsgeschehens angesehen“ werde. „Streitigkeiten zur Auslegung von Rahmenvereinbarungen gehen oft zulasten der Betroffenen. Das Ziel des BTHG, Leistungen zu gewährleisten, die den sich aus der individuellen Beeinträchtigung der Teilhabe ergebenden Bedarf decken und personenzentriert bereitgestellt und ausgeführt werden, bleibt auf der Strecke.“

„Mit Sorge“ stellt der DBR darüber hinaus fest, dass in einigen Bundesländern „die Gremienarbeit zur Umsetzung des BTHG nicht nur ins Stocken geraten ist, sondern teilweise diskutiert wird, sie ruhen zu lassen“. Der DBR appelliert vor diesem Hintergrund an die Verantwortung der Länder: „Es muss eine Umsetzung des BTHG im Sinne des Bundesgesetzgebers vorangetrieben werden, damit der Zugang zu Teilhabeleistungen nicht abhängig vom Bundesland, der Kommune oder dem Bezirk ist, in dem Leistungsberechtigte wohnen.“

Aktuelles Negativbeispiel: Sachsen

Wie berechtigt die vom Behindertenrat geäußerten Sorgen derzeit sind, dass in einigen Bundesländern der Prozess der Umsetzung des BTHG sogar ganz zu scheitern droht, zeigt eindrücklich das Beispiel Sachsen. Der Paritätische Wohlfahrtsverband im Freistaat beschreibt die Situation dort in einem Online-Beitrag vom 25. Januar 2025 auf seiner Homepage7 unmissverständlich: Die Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes drohe in Sachsen zu scheitern. Die Verhandlung eines Rahmenvertrages trete auf der Stelle. Die Fortschritte der vergangenen Jahre würden in Frage gestellt, befürchtet Anne Cellar, Referentin für Teilhabe des Paritätischen Sachsen und Autorin des Beitrags. Hierzu führt sie im Text aus: „In Gesprächen mit Vertreter:innen der kommunalen Spitzenverbände, des Landtags und weiteren politischen Akteur:innen zeichnet sich ein beunruhigendes Bild für die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in unserem Land. Die Idee der Inklusion und das BTHG werden - teils hinter vorgehaltener Hand, teils auch offen - als nicht mehr umsetzbares Projekt bezeichnet. Manche Stimmen gehen so weit, das BTHG als ein ,bundespolitisches Missverständnis‘ zu bezeichnen, das nach den Bundestagswahlen 2025 auf den Prüfstand gehöre. Klares Ziel dabei: das BTHG rückabwickeln und auf die Standards von vor der Gesetzesreform zurückführen. Selbst die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), die als Grundlage des BTHG zu sehen ist, wird von diesen Akteuren als ,überinterpretiert‘ bewertet“. 

Die Transformation ist nicht kostenneutral umzusetzen

Selbstbestimmung und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen zu stärken, ohne dass dabei Mehrkosten entstehen – von Beginn des Gesetzgebungsverfahrens des BTHG stand dieser Ansatz der Kostenneutralität in der Kritik. Die Transformation des Fürsorge- hin zum Teilhaberecht sollte ohne finanziellen Mehraufwand erfolgen. Dies waren Regierungsvertreter und Ministerialbeamte im Gesetzgebungsprozess niemals müde zu betonen. Heute zeigt sich: Die Kritik der Leistungserbringer am Kostenvorbehalt war und ist berechtigt. Sollen aber mehr Menschen für die benötigten Berufsgruppen (Heilerziehungspfleger:innen, Erzieher:innen, Pädgog:innen etc.) gewonnen werden, muss deren Arbeit in der Eingliederungshilfe besser bezahlt werden. Und auch der strukturelle Umbau des Leistungsgeschehens hin zu individuellen, selbstbestimmten Lösungen jenseits von Institutionen in einer barrierefreien Wohn- und Lebenswelt wird niemals kostenneutral zu haben sein. Politiker und künftige Regierungsverantwortliche, die die Grundsätze der UN-BRK und das BTHG ernst nehmen und umsetzen wollen, sollten sich endlich dieser Erkenntnis stellen und hierfür das notwendige Geld in die Hand nehmen. Die in Deutschland lebenden 13 Millionen Menschen mit Behinderung und die Leistungserbringer in der Eingliederungshilfe haben diese Wertschätzung verdient.       

  

Aus der BeWoPlaner-Redaktion
Autor: Darren Klingbeil
Foto: Adobe Stock