Digitale Transformation in der Behindertenhilfe

Mehr Digitalisierung bedeutet mehr Teilhabe

Im Unterschied zu anderen Bereichen der Sozialwirtschaft, wie etwa in der Pflege, findet das Thema Digitalisierung in der Behindertenhilfe häufig noch unterm Radar öffentlicher Wahrnehmung und behördlicher Weichenstellungen statt. Dabei kann der digitale Anbindungsprozess nicht nur Abläufe bei Leistungserbringern verschlanken. Auch Menschen mit Behinderung würden profitieren. Etwas Besserung ist in Sicht: In NRW legt die „Sozialstiftung NRW“ ein neues Förderprogramm auf.

Im Gesundheitswesen und in der Pflege sind Themen wie Telematikinfrastruktur, Telemedizin und -pflege und digital-vernetzte Prozessabläufe etwa in der Leistungsabrechnung zwischen Leistungsträgern und -erbringern mittlerweile Gang und Gäbe. Die hierzulande in der Vergangenheit häufig allzu schleppend verlaufende Digitalisierung nimmt auch in diesen Versorgungsbereichen nach und nach an Fahrt auf – die zum 1. Juli 2025 nun verbindlich vorgesehene Anbindung von Pflegediensten und -einrichtungen an die Telematikinfrastruktur (Ziel: sicherer und schneller Datenaustausch zwischen an der Gesundheitsversorgung beteiligten Akteuren) ist dafür ein unübersehbares Indiz.

In der Behindertenhilfe kann von einem vergleichbaren Anschluss an die digitale Transformation hingegen häufig noch nicht die Rede sein. Bezeichnenderweise spielt die Digitalisierung der Behindertenhilfe auch für die amtierende Bundesregierung offenbar keine bedeutende Rolle. Der Digitalverband Finsoz hatte dies schon bei Bekanntwerden des so genannten Fortschrittskoalitionsvertrag der Ampel-Parteien im Dezember 2021 kritisiert. In einer Pressemitteilung kritisierte der Verband damals die „Abstinenz des Themas Digitalisierung für weite Bereiche der Sozialwirtschaft“ im Koalitionsvertrag als „bemerkenswerten Mangel“. Beim Thema Inklusion blieben die avisierten Ziele der Bundesregierung hinter den Erwartungen zurück, so Finsoz-Vorstand, Prof. Helmut Kreidenweis. Die Digitalisierung im Bereich Inklusion werde fast ausschließlich auf das Thema der Barrierefreiheit verengt. „Es fehlen nach wie vor ein explizit formuliertes Recht auf digitale Teilhabe für Menschen mit Behinderungen sowie konkrete Initiativen, um diese zu verwirklichen“, so Kreidenweis. Weiter kritisierte der Verband, dass im Koalitionsvertrag für den Bereich der Eingliederungs- und der Kinder- und Jugendhilfe der Aspekt der Digitalisierung im intra- und interinstitutionellen Kontext – einschließlich des Aspektes der notwendigen Effizienzsteigerung „nahezu vollständig“ fehle.

Der Digitalverband forderte daher schon vor rund zweieinhalb Jahren, dass „die neue Bundesregierung den Fokus der Digitalisierung verstärkt auch auf die Hilfefelder der Sozialwirtschaft außerhalb der Pflege richtet – allen voran auf die Eingliederungshilfe sowie auf die Kinder- und Jugendhilfe. Kreidenweis: „Denn nach wie vor werden durch ineffiziente analoge Verwaltungsprozesse bei Leistungserbringern und Leistungsträgern hohe Millionenbeträge in Bürokratie versenkt und dem eigentlichen Hilfezweck entzogen.“1

NRW geht mit gutem Beispiel voran

Auch wenn in punkto Digitalisierung in der Behindertenhilfe auf Bundesebene hinsichtlich Förderpolitik seither kaum etwas passiert ist, deutet sich nun doch zumindest auf Ebene der Länder allmählich Besserung an. Ein Anzeichen hierfür ist ein neues Förderprogramm, das die „Sozialstiftung NRW“, in der Mitglieder der Wohlfahrtspflege, der Landesministerien und des Landtages von NRW vertreten sind, jüngst aufgelegt hat. Unter dem Förderaufruf „Digitale Teilhabe stärken – gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen“ will die Stiftung die Professionalisierung der Einrichtungen der Sozialen Arbeit weiter stärken und lenkt dabei „die unbedingte Aufmerksamkeit auf die digitale Teilhabe. Denn gelingende gesellschaftliche digitale Transformation braucht die digitale Teilhabe aller Mitglieder der Gesellschaft!“, heißt es im Förderaufruf. Mit diesem ermutigt die Stiftung die Träger der Freien Wohlfahrtspflege, „Projekte zur Förderung der digitalen Teilhabe strukturell benachteiligter Menschen zu initiieren, welche soziale Teilhabe durch digitale Tools erleichtern oder gar erst ermöglichen.“ Ziel sei es, strukturell benachteiligte Menschen sowie Kinder und Jugendliche zu einem kompetenten, sicheren und kritischen Umgang im Netz zu befähigen.2

Der Projektaufruf richtet sich ausschließlich an freie gemeinnützige und/oder mildtätige Träger von Einrichtungen und Diensten der Freien Wohlfahrtspflege in Nordrhein-Westfalen. Diese sollen unterstützt werden, „nachhaltig angelegte Angebote und Dienstleistungen zu entwickeln und ihr Portfolio zu erweitern.

Profitieren von diesem Förderaufruf sollen u.a. „Menschen mit kognitiven Einschränkungen bzw. Mehrfachbehinderungen in besonderen Wohnformen wie auch im ambulant betreuten Wohnen“, so die Stiftung. Für den Bereich der Eingliederungshilfe sind insgesamt Fördermittel in Höhe von 5 Mio. Euro vorgesehen. Insgesamt stellt das Programm 15 Mio. Euro zur Verfügung. Wobei weitere 5 Mio. Euro auf die Kinder- und Jugendhilfe entfallen und je 2,5 Mio. Euro auf die Bereiche Pflege bzw. Soziale Beratung.

Informationen zur Förderung im Überblick:

  • Die Fördermittel werden als nicht rückzahlbare Zuschüsse bewilligt.
  • Die Förderung erfolgt in Form einer Anteilsfinanzierung in Höhe von bis zu 90 %. Die Gesamtfinanzierung muss unter Einbeziehung der Eigenbeteiligung von 10 % der anerkennungsfähigen Ausgaben nachweislich gesichert sein.
  • Die Bagatellgrenze der Förderung je Projekt beträgt 10.000 Euro.
  • Der Zuschuss beträgt grundsätzlich maximal 100.000 Euro je Projekt. Der Stiftungsrat kann über einen höheren Zuschussbetrag im Einzelfall entscheiden.
  • Die Bewerbungsunterlagen wie alle weiteren Informationen zum Verfahren werden über die Website www.ptj.de/projektfoerderung/digitale-teilhabe-nrw bereitgestellt.
  • Die Einreichungsfrist begann am 2. Mai 2024, 09.00 Uhr, und endet am 1. Juli 2024, 16.00 Uhr.

Leistungsanbieter haben Digitalisierungs-Chancen längst erkannt

Auch wenn Sozialpolitik, etwa auf Bundesebene, in ihren Anstrengungen um die digitale Anschlussfähigkeit der Sozialwirtschaft, insbesondere der Eingliederungshilfe, noch viel zu Wünschen übrig lässt, heißt das lange nicht, dass die Behindertenhilfe sich davon komplett ausbremsen lässt.

Eines der besten Beispiel für diese Tatkraft der Leistungserbringer ist der „Digital-Preis“ des Verbandes Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie e.V., CBP. Nach 2019 und 2022 wird der Verband den mit 12.000 Euro dotierten Preis im Herbst dieses Jahr bereits  zum dritten Mal an richtungsweisende Projekte aus der Eingliederungshilfe vergeben. Ausgezeichnet werden „drei Projekte, die besonders innovativ und nachhaltig in die Strukturen der Organisation eingebunden sowie nach Möglichkeit mit leichten Modifikationen auf andere Organisationen übertragbar sind“, so der Verband auf der Homepage zum Preis.3

Preisträger in 2022 waren Special Olympics Deutschland e.V. für die Plattform „Gesundheit leicht verstehen“ (Platz 1), der Landes-Caritasverband für Oldenburg e.V. für sein Computerprogramm meine-bedarfsermittlung.de (Platz 2) und die „Caritas Wertarbeit Köln“ für ihr Projekt „Next Generation - Mit flexiblen Roboterlösungen inklusive Arbeit entwickeln" (Platz 3).

Und es sind nicht nur Verbände und Dachorganisationen der Behindertenhilfe, die beim Thema Digitalisierung bereit sind, Pionierarbeit zu leisten. Auch einzelne, meist große Träger wie etwa die Stiftung Alsterdorf in Hamburg oder die bundesweit mit Einrichtungen vertreten Gruppe Josefs-Gesellschaft e.V. stellen mit eigenen Projekten, Initiativen und Entwicklungsarbeit unter Beweis, dass ein Mehr an Digitalisierung einen Mehrwert für alle Beteiligte bedeutet.

So engagiert sich Alsterdorf etwa mit seinem Spenden-Projekt Digitale Assistenz. Und die Josefs-Gesellschaft widmet eine Unterseite ihrer Homepage ganz dem Thema „Projekte der Digitalisierung in der Rehabilitation und Altenhilfe“ und liefert hier auch die Begründung für das anhand vieler einzelner Projekte sichtbar gemachte Engagement mit, wenn sie betont: „Speziell in der Eingliederungshilfe geht es der Josefs-Gesellschaft um das Empowerment unserer Leistungsnehmenden mit dem Ziel, mehr Teilhabe am Leben und Selbstbestimmung zu ermöglichen. Gleichzeitig geht es um die Unterstützung unserer Mitarbeitenden durch die Optimierung von Prozessen.“4

Ein weiteres Beispiel für die Innovationskraft der Akteure in der Eingliederungshilfe ist das „Innovationsnetzwerk Eingliederungshilfe digital – Innet“. Ausgehend vom Impuls der Organisationsberatung contec treiben hier sozial- und digitalwirtschaftliche Akteure „die teilhabeorientierte Entwicklung digitaler Innovationen voran“, geleitet von der Frage, wie digitale Tools sowohl Menschen mit Behinderung aber auch die Leistungserbringer unterstützen können.5

Allesamt Beispiele, die verdeutlichen, wie sehr digitale und assistive Lösungen im Alltag von Einrichtungen und Menschen mit Behinderung dazu beitragen können, dass sich die Teilhabechancen für Menschen mit Beeinträchtigung erhöhen.

Weg von Spenden und Projekten – hin zur Regelfinanzierung

Nun ist es an der Zeit, dass die Gesetzgeber auf Landes- und Bundesebene den Handlungshebel umlegen und die Welt der (zeitlich befristeten) Förderprojekte verlassen und klare Mechanismen zur Regelrefinanzierung in die entsprechenden Sozialgesetzbücher schreiben: Damit Leistungserbringer in der Eingliederungshilfe ihre Aufwände und Anschaffungskosten im Bereich Digitalisierung qua Gesetzesanspruch von den Leistungsträgern einfordern können. Und nicht mehr auf Spenden und Fördergelder angewiesen sind.  

Fazit: Auch in der Behindertenhilfe ist es an der Zeit, dass der Digitalisierungs-Zug in Deutschland endlich deutlich an Fahrt aufnimmt!  

Aus der BeWoPlaner-Redaktion
Autor: Darren Klingbeil
Foto: Adobe Stock