
Gewaltschutz in der Behindertenhilfe

Leistungserbringer der Eingliederungshilfe sind seit Juni 2021 dazu verpflichtet, Maßnahmen zu ergreifen und konzeptionell zu fixieren, die Bewohnende im stationären und im ambulanten Setting vor Gewalterfahrungen schützen. Viele Einrichtungen und Träger haben sich auf den Weg gemacht, diese Anforderungen zu erfüllen. Eine aktuelle, im Juni 2024 veröffentlichte Studie im Auftrag zweier Bundesministerien unterstreicht nun die Notwendigkeit dieser Bemühungen. Denn noch immer berichten viele Menschen mit Behinderung von Gewalterfahrungen, die sie erleben.
Bundesweit haben alle Leistungserbringer der Behindertenhilfe den gleichlautenden Auftrag, ihre Klienten und Klientinnen vor Gewalterfahrungen zu schützen. Gesetzlich regelt dies der im Juni 2021 in Kraft getretene § 37a im SGB IX. Wörtlich heißt es in Absatz 1 der Gesetzesnorm:
- „Die Leistungserbringer treffen geeignete Maßnahmen zum Schutz vor Gewalt für Menschen mit Behinderungen und von Behinderung bedrohte Menschen, insbesondere für Frauen und Kinder mit Behinderung und von Behinderung bedrohte Frauen und Kinder. Zu den geeigneten Maßnahmen nach Satz 1 gehören insbesondere die Entwicklung und Umsetzung eines auf die Einrichtung oder Dienstleistungen zugeschnittenen Gewaltschutzkonzepts.“1
Handreichungen und Checklisten im Netz abrufbar
Infolge des Inkrafttretens dieser Pflicht, ein Gewaltschutzkonzept zu erarbeiteten und in den Einrichtungen und Diensten zu leben, haben Trägerverbände und Interessenvertretungen in jüngerer Vergangenheit verschiedene Handreichungen, Checklisten und Informationsmaterialen veröffentlicht und bereitgestellt, an denen sich Leistungserbringer orientieren können.
So hat die Lebenshilfe etwa im April 2023 die Broschüre „Gewalt in Diensten und Einrichtungen verhindern“ veröffentlicht. Sie ist kostenpflichtig zum Preis von 9 Euro beim Verlag der Lebenshilfe zu bestellen. Darüber hinaus hat die Selbsthilfevereinigung auch eine im Netz kostenlos herunterzuladende „Checkliste zur Gewaltprävention“ veröffentlicht. Sie trägt den Untertitel „Gewalt vermeiden, mit Würde begegnen, selbstbestimmt teilhaben können“ und fordert Einrichtungen und Dienste auf, eigene Strukturen und Abläufe hinsichtlich des Aspekts Gewaltprävention zu reflektieren. Dabei gehe es darum, „die entscheidenden Stellschrauben zu identifizieren. Solche, die helfen, gewaltsamen Umgang und entwürdigendes Verhalten in den Angeboten zu vermeiden und die Achtung der Menschen sowie die Förderung selbstbestimmter Teilhabe sicherzustellen“, so die Lebenshilfe auf ihrer Homepage zum Thema.2
Weibernetz e.V., eine bundesweite Selbstvertretungsorganisation von Frauen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen und Behinderungen, weist darauf hin, dass es insbesondere Mädchen und Frauen mit Behinderung sind, die Opfer von Gewalt in unterschiedlichsten Kontexten werden. Weibernetz hat bereits im Oktober 2021 eine Arbeitshilfe mit dem Titel In 5 Schritten zu einem Gewaltschutzkonzept erarbeitet. Diese soll Leistungserbringern helfen, ein Gewaltschutzkonzept zu entwickeln.
Die 5 Schritte, die Einrichtungen demnach gehen sollten, lauten (hier stark verkürzt):
- Schritt 1: Teamzusammenstellung: Um alle Sichtweisen in den Prozess einzubinden, soll ein interdisziplinäres Team zusammengestellt werden: Von der Leitungsebene über (ausgewählte) Mitarbeitende, soziale oder psychologische Dienste bis hin zu Selbstvertreter:innen. Ziel ist es, sowohl Frauen und Mädchen mit Behinderung und alle Nutzer:innen zu stärken und besser vor Gewalt zu schützen, als auch Leitungsverantwortlichen und Mitarbeitenden Werkzeuge für den Gewaltschutz an die Hand zu geben.
- Schritt 2: Analyse der Strukturen der Einrichtung/der Dienstleistung: Verständigung des Teams darauf, was unter Gewalt zu verstehen ist. Anschließende Reflexion, welche Strukturen Gewalt begünstigen, um gewaltfördernde Strukturen abbauen zu können.
- Schritt 3: Entwicklung präventiver Schutzmaßnahme: Schlüsselmaßnahmen (z.B. Vereinbarung gegen Gewalt) sind zu definieren und prominent im Leitbild der Einrichtung zu verankern.
- Schritt 4: Entwicklung von Interventionsmaßnahme: Erarbeitung eines Handlungsleitfaden zum Vorgehen bei Verdachtsfällen oder Gewaltvorkommnissen.
- Schritt 5: Das Gewaltschutzkonzept im Alltag mit Leben füllen: Um das entwickelte Konzept zu etablieren, gilt es dieses im Alltag mit Leben zu füllen.
Thema wird „nicht ernst genug genommen“
Wie bedeutsam es ist, dass Einrichtungen Gewaltschutzkonzepte nach oben beschriebenen oder ähnlichen Mustern verfassen und leben, unterstreicht auch ein im Mai 2022 vom Bundesbehindertenbeauftragten Jürgen Dusel gemeinsam mit dem Deutschen Institut für Menschenrechte veröffentlichtes Positionspapier mit dem Titel „Schutz vor Gewalt in Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen – Handlungsempfehlungen für Politik und Praxis“. Denn die Brisanz des Themas sei ungebrochen stellen die Verfasser in der Einleitung zum Papier fest, wo es heißt: „Zwar wird der Gewaltschutz in der Eingliederungshilfe in den letzten Jahren sowohl in der Politik als auch in der Praxis der Leistungserbringer stärker diskutiert. (…) Aber insgesamt bestehen weiterhin große Lücken und Probleme beim Gewaltschutz. Vielerorts herrscht Unverständnis dem Thema gegenüber und es ist festzustellen, dass der Schutz behinderter Menschen vor Gewalt nicht ernst genug genommen wird.“3 Eine Analyse, die durch Ergebnisse einer im Juni 2024 veröffentlichten Studie des in Nürnberg ansässigen Instituts für empirische Soziologie (IfeS) erneut gestützt wird.
Studie: Gewalterfahrungen nach wie vor weit verbreitet
Die IfeS-Studie mit dem Titel „Gewalt und Gewaltschutz in Einrichtungen der Behindertenhilfe“, erstellt im Auftrag des Bundesarbeitsministeriums (BMAS) und des Bundesfamilienministeriums (BMFSFJ), ist im Juni 2024 erscheinen und online, in Lang- wie in Kurzfassung, abrufbar. Die Kernbotschaften der Studie, in der 1003 in ambulanten und in stationären Settings lebende Erwachsene befragt wurden, lautet:
- Über 60 Prozent der befragten stationär Betreuten hatten psychische und um die 50 Prozent körperliche Gewalt seit dem 16. Lebensjahr erlebt. Wenn Gewalt durch Personen in der Einrichtung verübt wurde, waren dies überwiegend Mitbewohner und nur selten Betreuungspersonen. Frauen haben deutlich häufiger als Männer im Erwachsenenleben sexuelle Gewalt und sexuelle Belästigung erlebt. Die Verfasserinnen und Verfasser der Studie verweisen auf einen hohen Handlungsbedarf, weitere Maßnahmen zum Abbau von Gewalt in Einrichtungen der Behindertenhilfe zu ergreifen.
In der quantitativen Studie befragte das Forscherteam von Mai 2022 bis Januar 2023 über 1000 Menschen mit Behinderungen im Alter von 16 bis 65 Jahren, die sowohl in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe als auch in ambulanten Betreuungssetting lebten. An die quantitative Befragung schlossen sich Fokusgruppendiskussionen mit Befragten an. In diesen wurde aus deren Perspektive eruiert, wie mit Gewalt umgegangen wird, welche Lücken und Probleme im Gewaltschutz in den Einrichtungen noch bestehen und welche Verbesserungsmöglichkeiten die Befragten sehen.
Aufbauend darauf haben die Forscher in einem zweiten Schritt der Studie 20 Beispiele guter Praxis recherchiert, die ihrer Meinung nach das Potenzial haben, die erkannten Lücken im Gewaltschutz zu verbessern.
Einzelne, im Folgenden aus der Kurzfassung des Forschungsberichts zitierte Ergebnisse spiegeln sehr anschaulich den Handlungsbedarf, vor dem viele Einrichtungen offensichtlich noch stehen:
- Viele Menschen mit Beeinträchtigungen sind Benachteiligungs- und Diskriminierungserfahrungen ausgesetzt. Sie erleben unter anderem Einschränkungen ihrer Freiheit und Selbstbestimmung, insbesondere im stationären Betreuungskontext; ihnen wird notwendige Hilfe verweigert oder unerwünschte Hilfe aufgedrängt; und sie werden durch Personen oder Institutionen aufgrund der Behinderungen benachteiligt, ignoriert, nicht ernst genommen oder beschimpft.
- In der Untersuchung wird ein hohes Ausmaß von Gewalt gegen stationär betreute Frauen und Männer im Erwachsenenleben sichtbar. Jeweils die Hälfte der befragten Frauen und Männer gibt an, Formen körperlicher Gewalt seit dem 16. Lebensjahr erlebt zu haben. Von psychischer Gewalt seit dem 16. Lebensjahr berichten mehr als 60 Prozent der befragten Frauen und Männer.
- 57 Prozent der ambulant betreuten Frauen und 59 Prozent der Männer waren seit dem 16. Lebensjahr von körperlicher Gewalt betroffen. Psychische Gewalt im Erwachsenenleben berichteten sogar rund 80 Prozent der Frauen und Männer.
- Hinsichtlich aktueller Gewalterfahrungen (in den letzten zwölf Monaten) war psychische Gewalt die am häufigsten genannte Gewaltform, wobei stationär betreute Frauen und Männer mit einem Anteil von 28 Prozent gleichermaßen häufig davon betroffen waren.
- Körperliche Gewalt in den letzten zwölf Monaten hat jeder fünfte stationär betreute Mann und jede achte stationär betreute Frauen erlebt.
- In beiden Betreuungssettings waren Frauen in der aktuellen Lebenssituation jedoch häufiger mit sexueller Belästigung konfrontiert als Männer. Dabei weisen ambulant betreute Frauen die höchsten Werte auf (18 Prozent), gefolgt von stationär betreuten Frauen (14 Prozent), stationär betreuten Männern (elf Prozent) und ambulant betreuten Männern (9 Prozent).
- Täter psychischer Gewalt: Psychische Gewalt erlebten die Befragten aus beiden Betreuungssettings am häufigsten durch Personen im Arbeits- und Ausbildungsumfeld (mit Anteilen von 55 Prozent bis 72 Prozent der Betroffenen) sowie durch unbekannte Personen an öffentlichen Orten (mit Anteilen zwischen 44 Prozent und 60 Prozent).
- Täter körperlicher Gewalt: Bei körperlicher Gewalt nannten die befragten Männer unbekannte/wenig bekannte Tatpersonen im öffentlichen Raum am häufigsten, dicht gefolgt von Personen aus Arbeits- und Ausbildungskontexten (WfbM) – bei stationär betreuten Männern waren es zu gleichen Anteilen auch Personen aus Einrichtungen. Dabei handelte es sich überwiegend um männliche Tatpersonen.
- Täter meist andere Bewohner: Erlebten Betreute in Einrichtungen bzw. im Arbeitskontext körperliche Gewalt, so geschah dies am häufigsten durch andere Bewohnerinnen und Bewohner oder durch Kolleginnen und Kollegen mit Behinderungen in der WfbM. Teilweise wurde auch von Fällen berichtet, in denen die körperliche Gewalt vom Betreuungspersonal oder anderen Personen der Einrichtung ausging.
Das Forscherteam hat aus den Erkenntnissen seiner Untersuchung, insbesondere auch aus der Recherche der Beispiele guter Praxis, Handlungsempfehlungen abgeleitet, die einem verbesserten Gewaltschutz dienen. Zu den Elementen eines wirkungsvollen „gelebten“ Gewaltschutzes in der Behindertenhilfe sollten demnach gehören:
- Gewährleistung zeitlicher und personeller, aber auch finanzieller Kapazitäten als wichtige Voraussetzung, um Gewalt erkennen und konsequent verhindern zu können.
- Engagierte Unterstützung und Implementierung der Maßnahmen des Gewaltschutzes durch Leitungspersonen des Trägers und der Einrichtungen.
- Flächendeckende Einrichtung von Personalstellen für koordinierende Gewaltschutzbeauftragte sowie Unterstützungsgruppen.
- Obligatorische regelmäßige Schulungsmaßnahmen für Personal und Leitung zu den Themen Gewalt in unterschiedlichen Formen, Ausprägungen und Kontexten.
- Konsequente Intervention von Fach- und Leitungskräften bei Gewalt gegen Betreute und Mitarbeitende auf Basis eines entwickelten Handlungsleitfadens.
- Implementierung einrichtungsinterner fachlicher Strategien im Umgang mit gewaltbereiten Betreuten.
- Regelmäßige niedrigschwellige Informations-, Aufklärungs- und Sensibilisierungsmaßnahmen für alle Betreuten.
- Partizipative Entwicklung und Umsetzung aller Maßnahmen des Gewaltschutzes in enger Zusammenarbeit mit den Selbstvertretungsstrukturen der Betreuten.
- Gewährleistung von ausreichenden Mitteln, Kapazitäten und fachlicher Unterstützung für die Arbeit der Selbstvertretungen.
- Implementierung eines Systems niedrigschwelliger Ansprechpersonen und Beschwerdemöglichkeiten für Betroffene unter Einbindung interner und externer Strukturen.
- Enge Kooperation mit externen Fachstellen zu sexueller Belästigung und Gewalt und Erarbeitung institutionalisierter Vernetzungs- und Kooperationsstrukturen.
- Enge Kooperation mit Polizei und Justiz zur Prävention von und Sanktionierung bei Gewalt.
- Schulung und Sensibilisierung sowie bewusste Einbeziehung von rechtlichen Vertretungen, Eltern, An- und Zugehörigen der Betreuten in Gewaltschutzmaßnahmen.4
Aus der BeWoPlaner-Redaktion
Autor: Darren Klingbeil
Foto: Adobe Stock
Quellenangaben
1 § 37a SGB IX - Einzelnorm (gesetze-im-internet.de)
2 Gewalt vermeiden | Bundesvereinigung Lebenshilfe e. V.
4 Gewalt und Gewaltschutz in Einrichtungen der Behindertenhilfe, Forschungsbericht, ISSN 0174-4992, Juni 2024