Jugendstärkungsgesetz (KJSG): Neue Geschäftsmodelle und Kooperationsmöglichkeiten entstehen

Interview zur „Inklusiven Lösung“ mit Rechtsanwältin Christiane Hasenberg und Berater Thomas Pütz
   

Mit der so genannten „Inklusiven Lösung“ im Zuge des 2021 verabschiedeten Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes (KJSG) wird die Zuständigkeit für die Eingliederungshilfe für junge Menschen mit Behinderung bis Ende 2027 den Jugendämtern übertragen. Damit gehen grundlegende Veränderungen für Leistungserbringer im Bereich von Angeboten für junge Menschen einher. Und es eröffnen sich ihnen neue Chancen. Wichtige Aspekte also, zu denen die Branchenexpert:innen Rechtsanwältin Christiane Hasenberg und Managementcoach Thomas Pütz im Folgenden einen Ausblick und Handlungsempfehlungen geben. 

Sehen Sie freie Träger der Kinder- und Jugendhilfe und Leistungserbringer der Eingliederungshilfe auf die so genannte „Inklusive Lösung“ momentan gut vorbereitet?

Hasenberg: Zur Umsetzung der Inklusiven Lösung bedarf es ja noch eines weiteren Bundesgesetzes, das das Nähere über den leistungsberechtigten Personenkreis, Art und Umfang der Leistung, die Kostenbeteiligung und das Verfahren regeln muss, also für die konkrete Vorbereitung ganz maßgebliche Faktoren. Dieses Gesetz muss bis zum 1. Januar 2027 verkündet werden. Sollte der Gesetzgeber diesen Zeitraum ausschöpfen, so bliebe bis zum Inkrafttreten der Änderungen nur ein Jahr, namentlich bis zum 01. Januar 2028. Aber wir gehen bislang davon aus, dass den Leistungserbringern wie den Leistungsträgern schon früher mehr Sicherheit für die Umsetzung gegeben werden wird.

Pütz: Mit dem Jahr 2024 befinden wir uns ungefähr auf halber Strecke des geplanten Überleitungsprozesses. Erfahrungsgemäß laufen solche Innovationsprozesse nicht im linearen Tempo ab, sondern beschleunigen sich im Laufe des Prozesses. So ist es auch hier. Die Jugendministerin, Frau Paus, hat den entsprechenden fachlichen Beteiligungsprozess mit dem Namen „Gemeinsam zum Ziel“ im Dezember letzten Jahres abgeschlossen. Ein Gesetzesentwurf wird nun erarbeitet und soll im Rahmen der laufenden Legislaturperiode, also bis Herbst 2025, verabschiedet werden. Man muss aber klar sagen, dass bislang fast nur die Fachleute miteinander diskutieren, und zwar im Wesentlichen über hoch komplexe rechtliche Fragestellungen. Für die freien Träger der Kinder- und Jugendhilfe und die Leistungserbringer der Eingliederungshilfe wird es erst wirklich interessant, wenn der Gesetzesentwurf verabschiedet oder zumindest in seinen Umrissen bekannt ist. Zurzeit sind noch so viele Fragen offen, dass die Leistungserbringer kaum sinnvolle fachliche und wirtschaftliche bzw. investive Entscheidungen treffen können.

Sie weisen schon des Längeren darauf hin, dass die „Inklusive Lösung“ auch von Leistungserbringern der Eingliederungshilfe fordert, ihre Angebote für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene neu auszurichten. In welchen Bereichen besteht der größte Anpassungsbedarf?

Pütz: Sie meinen sicherlich die Leistungserbringer, die bislang ausschließlich Eingliederungshilfeleistungen nach dem SGB IX erbringen. Auch wenn wir nicht wissen, was im Gesetz stehen wird, verändert sich für diese Anbieter vermutlich sehr viel. Es beginnt bereits mit der Inklusion als Kern der Reform. Wesensmerkmal der Anbieter, über die wir hier sprechen, ist ja, dass diese ihre Leistungen exklusiv, also ausschließlich für junge Menschen mit Behinderung, quasi in einer Sonderwelt, erbringen. Zukünftig werden sie, um der Inklusionsforderung Rechnung zu tragen, ihre Leistungen (vielleicht von Ausnahmen abgesehen) für alle jungen Menschen erbringen müssen. Und das in einem neuen gesetzlichen Rahmen, nämlich dem bislang für sie unbekannten Kinder- und Jugendhilfegesetz, mit Mechanismen und Abläufen, die ihnen ebenfalls bislang fremd sind. Hierzu gehören die Landesrahmenverträge, die Entgeltverhandlungen mit den Jugendämtern, die Hilfeplangespräche und vieles mehr. Aber die größte Herausforderung ist definitiv die inklusive Umgestaltung der Angebote.

Hasenberg: Genau dieser Aspekt der Mehrdimensionalität wird in unserer Wahrnehmung häufig zunächst übersehen und der Blick ausschließlich auf die zukünftige Leistungserbringung für Kinder und Jugendliche sowie junge Erwachsene mit Behinderungen gerichtet. Auch vor diesem Hintergrund müssen pädagogische Konzepte vollständig neu gedacht werden. Die Qualifizierung der Mitarbeiter:innen und der Qualifikationsmix muss überarbeitet und ggf. auch Fort- und Weiterbildung angeboten werden; die Zeit bis 2028 ist mithin keineswegs lang bemessen. Insoweit ist z.B. auch zu berücksichtigen, dass Fachkräfte wie Heilerziehungspfleger:innen zwar bislang in der Eingliederungshilfe, nicht aber in der Kinder- und Jugendhilfe als solche anerkannt sind. Eine der Herausforderungen ist mithin, dass auch auf dieser Ebene Anpassungen erforderlich sind.

Angesichts dieser von Ihnen genannten Herausforderungen und des ohnehin schon akuten Veränderungsdrucks, den die BTHG-Umsetzung bei den Anbietern verursacht, fragt man sich: Wie sollen die Anbieter all diese Veränderungen managen? Und ist das Management-Know-how vorhanden?

Pütz: Das BTHG ist ja nichts anderes als die deutsche Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention, in der es im Kern ja auch um Inklusion geht. Das Thema sollte also bekannt sein. Und wenn die Umsetzung der inklusiven Gesetzgebung in die heiße Phase tritt, sollten die größten Herausforderungen der BTHG-Umsetzung eigentlich bewältigt sein, so dass wieder Management-Kapazitäten vorhanden sind. Was das Management-Know-how betrifft, ist davon auszugehen, dass ein Anbieter, der bislang erfolgreich in der Eingliederungshilfe agiert, auch in einer inklusiveren Angebotslandschaft erfolgreich sein kann.

Hasenberg: Und die Leistungserbringer haben mit der Umsetzung des BTHG ja dann reichlich Erfahrung sammeln können, von denen sie dann sicherlich profitieren können.

Ein weiteres Problem, das die Eingliederungshilfe stark belastet, ist der Personalmangel. Wie gelingt es, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter jetzt auch noch im Vorgriff auf die „Inklusive Lösung“ mitzunehmen und zu motivieren?

Pütz: Wir müssen den Fachkräftemangel, also das quantitative Problem, von der Qualifikation des Personals, also dem qualitativen Problem, unterscheiden. Der Fachkräftemangel stellt für die Anbieter der Eingliederungshilfe und der Kinder- und Jugendhilfe gleichermaßen eine große Herausforderung dar. Hier hilft nur Arbeitgeberattraktivität, und diese wiederum wird von Fachkräften wesentlich daran gemessen, wieviel der Arbeitgeber in sie investiert, also nicht nur in Gehalt, sondern auch in Fort- und Weiterbildung. Und hier schließt sich der Kreis. Möglichkeiten zur fachlichen Weiterentwicklung motivieren nicht nur, sondern sie sind genau das, was jetzt auch für die Umsetzung von Inklusion benötigt wird.

Hasenberg: Für die Mitarbeiter:innen ist es ebenso wie für die Führungsebene umso wichtiger, dass möglichst bald Genaueres über die weitere Ausgestaltung der Inklusiven Lösung durch das weitere Gesetz festgelegt wird und nicht auch auf dieser Ebene Unsicherheiten geschürt werden, z.B. in der Frage, ob und wenn ja welche Fort- oder Weiterbildung sinnvoll und motivierend ist und beruflich weitere Chancen bietet.

Welche Chancen sehen Sie denn in der „Inklusiven Lösung“ für die Anbieter in der Eingliederungshilfe und welche zentralen Prozess- und Vorbereitungsschritte empfehlen Sie den Anbietern nun als nächstes zu gehen, um von diesen Chancen zu profitieren?

Pütz: Die Chancen für die Anbieter von Eingliederungshilfe bestehen einerseits in der Umsetzung von Inklusion, die sie ja selbst seit Jahrzehnten fordern, und andererseits in der Öffnung des Marktes. Eine Unterscheidung zwischen reinen Kinder- und Jugendhilfeträgern und reinen Leistungsanbietern der Eingliederungshilfe, wie wir sie heute kennen, wird es ja – zumindest im Bereich der Leistungen für junge Menschen – zukünftig nicht mehr geben. Hier entstehen neue Geschäftsmodelle, aber auch neue Kooperationsmöglichkeiten der fachlichen Disziplinen. Und genau das würden wir den Anbietern auf beiden Seiten auch empfehlen: Sich bereits jetzt aufeinander zuzubewegen und fachliche und gegebenenfalls auch institutionelle Kooperationen zu bilden.

Hasenberg: Da kann ich mich nur anschließen (lacht). Und zu guter Letzt sollte der Blick auch in Richtung der jungen Menschen mit Behinderungen und ihren Familien gehen: Die gebündelte Zuständigkeit eines Leistungsträgers für alle jungen Menschen wird bislang leider immer wieder auftretende Zuständigkeitsstreitigkeiten zu Lasten der Kinder und Jugendlichen mit Behinderungen und deren Angehörige hoffentlich in Gänze der Vergangenheit angehören lassen!

Aus der BeWoPlaner-Redaktion
Interview: Darren Klingbeil
Foto: Adobe Stock

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Christiane Hasenberg
ist Rechtsanwältin, Fachanwältin für Sozialrecht, und Partnerin
der CURACON Rechtsanwaltsgesellschaft mbH

Kontakt: christiane.hasenberg@curacon-recht.de

 

Thomas Pütz, MBA

ist Systemischer Coach und Berater mit 35 Jahren Expertise in der Sozialwirtschaft

Kontakt: puetz@fuehrungsteam.de