Teilhabe an der Gesundheitsversorgung

Ein Aktionsplan soll es nun richten

Ob ambulant in Haus- und Facharztpraxen oder stationär in Krankenhäusern: Menschen mit Behinderung, insbesondere die mit geistiger und schwerer Mehrfachbehinderung, haben es besonders schwer, eine angemessene medizinische Versorgung zu erhalten. Die Gründe sind struktureller Natur – und sie sind hinlänglich bekannt. Mit einem „Aktionsplan“ unternimmt die aktuelle Bundesregierung nun einen Anlauf, Zugangshürden abzubauen.

Laut der von Deutschland anerkannten UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) haben Menschen mit Behinderung hierzulande dasselbe Recht auf eine qualitätsgesicherte und ortsnahe gesundheitliche Versorgung wie Menschen ohne Behinderung. Doch ein auf Effizienz getrimmtes Gesundheitssystem wie das hiesige wird diesem Anspruch bis heute in vielen Belangen nicht gerecht. Die Folge: Menschen mit Behinderung, insbesondere solche mit geistiger und schwerer Mehrfachbehinderung, sind allzu oft von gleichberechtigter medizinisch-ärztlicher Diagnostik, Behandlung und Therapie ausgeschlossen. Denn ihre Behandlung ist u.a. viel zeitintensiver als die nicht-behinderter Patienten. Und Zeit ist im von Personalknappheit und Kostendruck geprägten Gesundheits- und Pflegewesen bekanntlich vor allem eines: Mangelware.  

Darüber hinaus ist das hiesige Gesundheitswesen auch in diversen anderen strukturellen Belangen nur unzureichend auf die Bedarfe dieser besonders vulnerablen Patient:innen-Gruppen eingestellt: So fehlt bei Ärzt:innen und Pflegekräften etwa oft das erforderliche Aus-, Fort- und Weiterbildungswissen, überhaupt mit den betroffenen Menschen kommunizieren zu können. Es fehlt an Fachstationen in den Krankenhäusern und Spezialkliniken, die sich darauf eingestellt haben, diese Menschen aufzunehmen und zu behandeln. Es fehlt vielerorts auch immer noch an Barrierefreiheit schon beim Zugang zu Praxen niedergelassener Haus- und Fachärzte. Mit drastischen Worten positionierte sich hierzu der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Jürgen Dusel, im Mai 2023, als er im Zuge einer Fachveranstaltung zur Verabschiedung der „Bad Nauheimer Erklärung“ erklärte: „Es kann doch nicht sein, dass es immer noch Bundesländer gibt, in denen es nicht eine einzige barrierefreie gynäkologische Praxis gibt. Die medizinische Versorgung gehört zur Basis der Daseinsvorsorge. Dass Menschen mit Behinderungen hier immer noch ausgeschlossen werden, insbesondere wenn es um die ambulante Versorgung geht, ist eines Landes wie der Bundesrepublik Deutschland unwürdig.“ 1

Und es fehlt ganz offensichtlich auch am Willen auf Seiten der Kosten tragenden Krankenkassen, ihrerseits strukturelle Verbesserungen mit zu befördern. Anders ist nicht erklärbar, dass hierzulande immer noch teilweise Jahre ins Land gehen, bis interdisziplinäre, ambulante Versorgungszentren, so genannte ,Medizinische Behandlungszentren für erwachsene Menschen mit Behinderungen (MZEB)‘, tatsächlich ihren Betrieb aufnehmen  – obwohl es zu deren Errichtung bereits seit 2015 eine Gesetzesgrundlage gibt. Das führt dazu, wie das Ärzteblatt berichtete, dass im Herbst 2023 bundesweit erst 65 solcher MZEB existierten, von denen sich lediglich 57 Einrichtungen an der praktischen Versorgung beteiligten.2

Kritiker auf Seiten der Krankenhausträger bemängeln in diesem Zusammenhang die häufig viel zu bürokratischen Prozesse, die zu durchlaufen sind, bis ein MZEB tatsächlich eröffnen kann. Bekräftigt wird diese Kritik auch vom Behindertenbeauftragten Jürgen Dusel, wenn er bezüglich des notwendigen Ausbaus des Angebots von MZEB zu folgendem Fazit kommt: „Von einer bundesweiten und flächendeckenden Versorgung mit MZEB sind wir weit entfernt. Die Gründe dafür sind vielfältig: Zulassungsausschüsse lehnen Anträge ab mit der Begründung, es gebe keinen Bedarf; Vergütungsverhandlungen werden an Bedingungen geknüpft, die ein wirtschaftliches Arbeiten eines MZEB fast unmöglich machen – zum Beispiel wenn die Kriterien, wer behandelt werden darf, so eng formuliert werden, dass die meisten Patient:innen abgewiesen werden müssen oder Bewohner:innen in Einrichtungen des gleichen Trägers gleich ganz ausgeschlossen oder zahlenmäßig begrenzt werden. Trotz der eindeutigen Formulierung im Gesetz wird manchen MZEB das eigentliche Behandeln vertraglich untersagt und sie werden auf Diagnostik und eine Lotsenfunktion reduziert. Diese Fehlentwicklungen müssen dringend korrigiert werden.“3

Leistungsanbieter bekräftigen Forderung nach inklusiver Medizin

Auch maßgebliche Verbände und Leistungsanbieter der Eingliederungshilfe werden nicht müde, ihre Forderungen nach einer gleichberechtigten Teilhabe von Menschen mit Behinderung an der Gesundheitsversorgung Nachdruck zu verleihen. So wies jüngst etwa der Bundesverband Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie (CBP) anlässlich des Internationalen Tages der Menschen mit Behinderung am 3. Dezember 2023 auf die bestehenden Barrieren und Defizite hin. „Für Menschen mit Behinderungen ist es oftmals schwierig, die benötigte ärztliche Behandlung und medizinische Diagnostik zu erhalten“, sagte der erste Vorsitzende des CBP, Wolfgang Tyrychter. Die Betroffenen stießen an vielen Stellen auf Hürden. Der Verband fordert von der Politik die „umfassende Schaffung eines barrierefreien und inklusiven Gesundheitswesens“. Gesundheitspolitische Maßnahmen seien zu ergreifen, „damit Menschen mit Behinderungen uneingeschränkt Zugang zu allen diagnostischen und therapeutischen Leistungen im Gesundheitswesen bekommen“, so Tyrychter.4

Die seit dem vergangenen Jahr von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach auf den Weg gebrachte aktuelle Krankenhausreform ist ein weiterer Hebel für die Akteure, um auf die Dringlichkeit einer verbesserten Gesundheitsversorgung behinderter Menschen hinzuweisen. So appellierte schon im Mai 2023 ein breites Bündnis von Verbänden (darunter u.a. die Lebenshilfe, der Paritätische Gesamtverband, der Spitzenverband der Wohlfahrtspflege (BAGFW) und viele andere) an Lauterbach in Form eines Positionspapiers5, Verbesserungen zu erreichen. Das Bündnis fordert darin u.a.:

  • Dass Krankenhäuser aller Versorgungsstufen technisch, personell und konzeptionell angemessen ausgestattet sind, um Menschen mit Behinderung eine adäquate Gesundheitsversorgung in derselben Bandbreite und Qualität zur Verfügung zu stellen, wie der Gesamtbevölkerung.
  • Spezialisierte stationäre Angebote, um Personen mit besonders komplexen Gesundheitsstörungen bzw. schwerer geistiger und körperlicher Mehrfachbehinderung ein Behandlungsangebot zu machen, das nicht in der Regelversorgung abgedeckt ist.
  • MZEB weiterhin auszubauen und deren Konzepte weiterzuentwickeln.
  • Den Erhalt vorhandener bewährter spezialisierter Angebote (Besondere Einrichtungen, besonders spezialisierte Fachabteilungen bzw. Krankenhäuser), deren Weiterentwicklung und Integration in die neuen Strukturen.6

Besser spät als nie: Erarbeitung eines Aktionsplans gestartet

Mit einem „Aktionsplan für ein diverses, inklusives und barrierefreies Gesundheitswesen“ will die Bundesregierung sich nun daran machen, die beschriebenen Zugangshürden abzubauen. Der Aktionsplan ist als Vorhaben im Ampel-Koalitionsvertrag angekündigt und sollte eigentlich bereits Ende 2022 vorliegen. Doch erst im Oktober 2023 hat das Bundesgesundheitsministerium mit einer „Startschuss“-Veranstaltung den Erarbeitungsprozess für diesen Aktionsplan auf den Weg gebracht. Im Anschluss waren Akteure, wie z.B. Krankenhausträger und Ärzteschaft aufgefordert, sich mit Vorschlägen und Konzepten an diesem Prozess zu beteiligen. „Zusammen mit Experten und Betroffenen werden wir deshalb einen Aktionsplan für ein diverses, inklusives und barrierefreies Gesundheitswesen erarbeiten. Die beste Gesundheitsversorgung hilft nicht, wenn nicht alle Zugang dazu haben“, unterstrich Minister Lauterbach anlässlich des Starts des Erarbeitungsprozesses die Intention des Gesetzgebers.7

Laut Bundesgesundheitsministerium sollen die Themen des Aktionsplans ab Anfang 2024 in Fachgesprächen mit ausgewählten Akteur:innen konkretisiert werden. Ziel ist es, den ausgearbeiteten Plan im Sommer 2024 vorzulegen.

Krankenhausverband formuliert konkrete Vorschläge

Als einer der großen Krankenhausträger im Land hat der Deutsche Evangelische Krankenhausverband (DEKV) sich bereits mit einer umfangreichen Stellungnahme zum Aktionsplan eingebracht. In diesem online einsehbaren Vorschlagspapier spricht sich der Verband u.a. für die folgenden Weichenstellungen aus:

  • Der DEKV schlägt ein „dreistufiges Versorgungsmodell“ (vor Ort, regional, überregional) vor, um die Situation zu verbessern:
  • Um in allen Krankenhäusern (vor Ort) die grundlegende Kompetenz zur Versorgung von Menschen mit Behinderung zu verbessern, brauche es eine entsprechende Berücksichtigung des Themas in der Ausbildung von Ärzt:innen und Pflegefachkräften, so der Verband. Darüber hinaus solle jedes Krankenhaus, bei entsprechender Refinanzierung, mindestens eine:n Mitarbeiter:in aus dem ärztliche:n Team als Beauftragte:n für Menschen mit Behinderung ausweisen. Dieser könne bei Einlieferungen von Patient:innen mit besonderen Bedarfen aufgrund einer Behinderung hinzugezogen werden.
  • Auf regionaler Ebene sollen die Planungsbehörden der Länder mindestens ein regionales Zentrum in jeder Versorgungsregion ausweisen. Dieses solle für die Patient:innen mit Behinderung ortsnah eine verlässliche Anlaufstelle für die stationäre Behandlung zur Verfügung stellen. „Mit einer regelhaften und garantierten Refinanzierung sollen dort ein interdisziplinäres Kompetenzteam mit der Expertise und der Erfahrung bei der Versorgung von Menschen mit geistiger oder schwerer Mehrfachbehinderung und entsprechende Versorgungsprozesse etabliert werden“, führt der DEKV aus.
  • Überregionale Versorgungszentren sollen im Rahmen der Zentrumsrichtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) geregelt werden. Diese Zentren sollen  hochkomplexe Fälle versorgen. „Zudem stellen sie Aus-, Fort- und Weiterbildung sicher, betreiben medizinische, pflegerische und Versorgungsforschung und stehen den Krankenhäusern in der Fläche für die telemedizinische Unterstützung zur Verfügung“, so der Vorschlag des Verbands.

Neben dem Konzept zur Verbesserung der akutstationären Versorgung von Menschen mit Behinderung enthält die Stellungnahme weitere Vorschläge:

  • zur Stärkung und zum Ausbau der ambulanten Versorgung in Medizinischen Behandlungszentren für Erwachsene mit Behinderung (MZEB),
  • für eine bessere Ausbildung aller Gesundheitsfachberufe, Ärzt:innen, Pflegekräfte und Therapieberufe zum Thema inklusives, barrierefreies und diverses Gesundheitswesen und
  • zur Weiterentwicklung der physischen Barrierefreiheit.

Aus der BeWoPlaner-Redaktion
Autor: Darren Klingbeil
Foto: Adobe Stock