Wie Leistungserbringer im Paradigmenwechsel bestehen

Besondere Wohnformen – Update 2024

Auch in diesem Jahr wirken die bekannten Herausforderungen für Anbieter Besonderer Wohnformen in der Eingliederungshilfe fort: Personalmangel, Verhandeln auskömmlicher Refinanzierungen und die Modularisierung von Leistungen. Ein Paradigmenwechsel – in dem es zudem gelingen muss, Mitarbeitende und Klient:innen mitzunehmen.

In einigen Bundesländern, etwa in Baden-Württemberg, haben Leistungserbringer und -träger begonnen, den jeweiligen SGB IX-Landesrahmenvertrag zu verhandeln. Andernorts, wie z. B. in NRW, steht der Start dieser Verhandlungen an. Vom Geschick der Leistungserbringer Besonderer Wohnformen in diesen Verhandlungsrunden wird maßgeblich abhängen, ob es ihnen gelingen wird, den Paradigmenwechsel hin zur personenzentrierten Leistungserbringung in den Wohnformen erfolgreich zu gestalten.

Dazu braucht es vor allem auch Managementwerkzeuge: Controlling-Kompetenzen als Grundlage für eine genaue Kenntnis transparenter Kostenstrukturen, professionelle Personalentwicklung und den Aufbau einer Arbeitgebermarke. Nur mit einem solchen Paket an Maßnahmen lassen sich auch Refinanzierungen aushandeln, die den Fortbestand der Wohnformen und eine qualitätsgesicherte Erbringung von Leistungen künftig sichern.

Hinzu kommt: Dieses Szenario spielt sich vor dem Hintergrund eines sich weiter zuspitzenden Personalmangels ab. Ein Mangel, der für immer mehr Leistungserbringer, insbesondere für kleinere Akteure, längst schon existenzgefährdende Ausmaße annimmt.

Anbietern stehen harte Kostenverhandlungen bevor

In Summe ein Gemisch herausfordernder Faktoren für Leitungskräfte und Verantwortliche der vormals „stationären“ Einrichtungen, die spätestens jetzt ein Umsteuern im Management erfordern.

Expertinnen und Experten aus dem Bereich der Unternehmensberatung und der Rechtsberatung für die Eingliederungshilfe liefern hierzu auf Nachfrage eine klare und zugleich schonungslose Analyse:

In Bundesländern, wo jetzt Verhandlungen anstehen, zeige sich, „dass es zukünftig deutlich schwieriger werden wird, eine auskömmliche Refinanzierung zu verhandeln“, bestätigt etwa Carsten Effert, geschäftsführender Partner der Rosenbaum Nagy Unternehmensberatung aus Köln. Dafür gäbe es mehrere Gründe, so der langjährige Berater und Kenner der Eingliederungshilfe. „Ganz grundsätzlich hat das damit zu tun, dass aufgrund des Leitprinzips der Personenzentrierung vielfach nur noch Leistungen abrechenbar sind, die direkt mit den Menschen erbracht und entsprechend dokumentiert (und ggf. sogar quittiert) werden. Die Zeiten, in denen man durch nicht-besetzte Stellen das wirtschaftliche Ergebnis verbessern konnte, sind vorbei!“

Effert macht auf einen weiteren limitierenden Faktor aufmerksam. „Überdies wurde in den Verhandlungen der Landesrahmenverträge die Refinanzierung der Regiekosten/des Overheads, also von Leitung und Verwaltung, deutlich begrenzt – da werden sich einige Leistungsanbieter mit üppigem Overhead noch umschauen.“

Und erschwerend geselle sich noch das Problem hinzu, dass sich Leistungsträger schlichtweg weigerten, in Verhandlungen einen Risikozuschlag zu gewähren, „obwohl es dazu  - zumindest aus der Pflege - entsprechende Gerichtsurteile gibt, die die Zulässigkeit einer solchen ,Gewinnkomponente‘ bestätigen“, weiß Effert.

Es droht die Reduktion des Angebots

Aus Sicht von Rechtsanwältin Christiane Hasenberg, Fachanwältin für Sozialrecht und Partnerin der Curacon Rechtsanwaltsgesellschaft mbH, gestaltet sich nicht nur der oben geschilderte Abschluss entsprechender Vereinbarungen „oftmals langwierig und komplex“. Auch deren Umsetzung in der Praxis sei mit Herausforderungen verbunden, „sei es in personeller Hinsicht als auch mit Blick auf die personenzentrierte, dezentrale Leistungserbringung“. 

Hasenberg sieht in diesem Zusammenhang den Fachkräftemangel als „weitere große Herausforderung“. Er bedrohe „die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen und führt zu einer deutlichen Reduzierung von Angeboten und Leistungen“, befürchtet die Branchenexpertin. Es gehe hier zum einen darum, „als Arbeitgeber möglichst attraktiv zu sein, bspw. durch Einführung von tariflicher Entlohnung, wo dies noch nicht geschieht“. Andererseits sei Fremddienstleistung, „die mangels eigenen Personals eingekauft werden muss, um ein Vielfaches teurer als zumeist über die Vergütungsvereinbarungen refinanziert wird“. Auch hier gelte es, diese Mehrkosten in den kommenden Verhandlungen „gezielt einzubringen“, rät Hasenberg.

Prognosen zur Branchendynamik – perspektivisch weniger Anbieter?

Die beschriebenen Entwicklungen haben aus der Sicht der beiden Branchen-Expert:innen das Potenzial, die Struktur der Leistungserbringung im Bereich der Besonderen Wohnformen aber auch die Struktur der Anbieterlandschaft in der Eingliederungshilfe grundlegend zu verändern. „Die Kooperation oder auch der Zusammenschluss mit anderen Leistungserbringern dürfte auch in der Eingliederungshilfe vermehrt vorangebracht werden, um den wirtschaftlichen und personellen Herausforderungen gewappnet zu sein und Synergien zu nutzen“, erwartet etwa Christiane Hasenberg von der Curacon Rechtsberatung.

Und auch bei der Rosenbaum Nagy Unternehmensberatung rechnet man nach Aussage von Carsten Effert „tatsächlich auch mit einer gewissen Marktbereinigung, da es insbesondere kleinere (häufig private) Anbieter zunehmend schwer haben, Personal zu finden und dann auch parallel noch die BTHG-Umsetzung zu stemmen“. Diese werde „in den meisten Bundesländern zu einer Modularisierung der Leistungssystematik“ führen, „was in Teilen zu einer Ambulantisierung der Besonderem Wohnformen führt und einen ziemlichen Change-Prozess beim Personal mit sich bringt“, prognostiziert er.

Viele Anbieter müssen noch ihre ,Hausaufgaben‘ machen

Trotz der Tatsache, dass der Paradigmenwechsel in der Eingliederungshilfe seit Jahren bekannt ist und seine Schatten seit Langem voraus geworfen hat, haben sich offenkundig längst nicht alle Leistungserbringer strukturell mit diesem Transformationsprozess befasst. Dies beschriebt zumindest Carsten Effert aus seiner Beratungspraxis wie folgt: „Unsere Beobachtung ist, dass viele Leistungserbringer das, was sie unabhängig von den o.g. Hürden aufgrund schleppender Verhandlungen schon längst hätten tun können, nicht bzw. viel zu spät angehen.“ Dazu gehörten bspw. Grundlagenschulungen zum BTHG und seinen Leitprinzipien, wie Personenzentrierung etc. Dazu gehöre aber auch die Arbeit „an den zukünftig in den meisten Bundesländern notwendigen Fachkonzepten. Solche Fachkonzepte, führt er aus, hätten nur noch teilweise mit den bekannten Einrichtungs- oder pädagogischen Konzepten zu tun, „sondern sind vielmehr wie Business-Pläne zu verstehen, in denen angebotsindividuell die Leistungswelt beschrieben wird, was wiederum Grundlage der Verhandlungen sein wird.“

In punkto Verhandlungen befürchtet Effert in diesem Zusammenhang, „dass noch nicht alle Leistungserbringer bereit und in der Lage sind, Entgeltverhandlungen zu führen. In NRW bspw. werden aber auf alle Anbieter Einzelverhandlungen zukommen!“

Grundsätzlich jedoch, meint Effert, hätten sich viele Leistungserbringer „inzwischen ernsthaft auf den Weg der systematischen und zielorientierten BTHG-Umsetzung gemacht“. Dies sei über sieben Jahre nach Verabschiedung des Gesetzes im Bundestag aber „auch höchste Zeit“. Wobei „fairerweise“ zu ergänzen sei, „dass in vielen Bundesländern die Verhandlung der Landesrahmenverträge äußerste schleppend über die Bühne gegangen ist - in Bayern erst Mitte 2023! - und manche Landesrahmenverträge wenige konkrete Hinweise zur zukünftigen Leistungssystematik geben“, kritisiert er.

Eine neue Leistungswelt erfordert geeignete Software

Beide von der Redaktion angefragten Expert:innen sehen die Leistungsanbieter im Bereich der Besonderen Wohnformen jetzt also gefordert, ihre Kompetenzen zu schärfen. Für Effert stehen hierbei die Themen Steuerung und Controlling im Mittelpunkt. „Bei der Steuerung geht es sowohl um eine systematische Leistungsplanung und -steuerung (inkl. Dokumentation und Abrechnung sowie Nachweis der Wirksamkeit), als auch um eine bedarfsorientierte Personalsteuerung (Personaleinsatzplanung unter Beachtung der Qualifikation, Dienstplanung mit Ausfallkonzepten etc.). Und beim Thema Controlling geht es um die Erweiterung vom reinen Finanzcontrolling hin zu einem Leistungs- und Personalcontrolling.“ Indirekt spiele somit auch das Thema Digitalisierung eine Rolle: „Für die neue Leistungswelt und eine adäquate Steuerung brauche ich eine geeignete Softwareunterstützung!“

Auch Christiane Hasenberg betrachtet „die Integration von digitalen Lösungen sowie gezieltes Controlling und ausgeklügelte Steuerung“ als wichtige Stellschrauben. Diese könnten Leistungserbringer „bei einem möglichst effizienten Ressourceneinsatz und bei der Optimierung sowie schlankeren Gestaltung von Prozessen unterstützen und Verwaltungsaufwand reduzieren, „müssen jedoch auch refinanziert werden“. Hier schließt sich der Kreis, wenn sie anfügt: „Dies gilt es in zukünftigen Verhandlungen um Leistungs- und Vergütungsvereinbarungen vermehrt einzubringen – auch und gerade angesichts knapper öffentlicher Mittel.“

Lessons learned

  • Mit den Leistungsträgern stehen harte Verhandlungen um die auskömmliche Refinanzierungen von Teilhabe- und sonstige Leistungen an.
  • Leistungserbringer sind gefordert, für Kostentransparenz zu sorgen – nur mit transparenten betriebswirtschaftlichen Kennzahlen können sie in Verhandlungen selbstbewusst auftreten und überzeugen.
  • Gleichzeitig gilt es, eine attraktive Arbeitgebermarke zu gestalten, um im Wettbewerb um potenzielle Fachkräfte erfolgreich sein zu können.
  • Managementkompetenz in Controlling und Steuerung sind in der neuen Leistungswelt (und im Verhandeln von Preisen) unabdingbar.
  • Leistungserbringer müssen sich vielerorts auf Einzelverhandlungen einstellen. 
  • Zeitgemäße Softwarelösungen bei der Erfassung von Leistungen, Zeiten und Prozessabläufen können den notwendigen Transformationsprozess entscheidend erleichtern.

Aus der BeWoPlaner-Redaktion
Autor: Darren Klingbeil
Foto: Garik Barseghyan auf Pixabay