Die ungelöste Schnittstelle
Menschen mit Behinderung, die zugleich einen hohen Pflegebedarf haben bzw. diesen etwa aufgrund zunehmenden Alters entwickeln, ist der vollumfängliche Anspruch auf Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung nach wie vor verwehrt. Diesen Webfehler im Sozialrecht endlich abzuschaffen, werden Behindertenverbände und -akteure auch im Jahr 2024 nicht müde zu fordern.
In der praktischen Auslegung des Sozialrechts kommt es immer wieder vor, dass Leistungsträger die Kostenverantwortung von sich weg hin zu einem anderen Leistungsträger „umleiten“ wollen. Zwischen Kranken- und Pflegekassen ist diese als „Verschiebe“-Praxis bekannte Taktik eine nicht selten anzutreffende Vorgehensweise. In Konstellationen, in denen ein Mensch mit Behinderung neben Teilhabeleistungen nach SGB IX auch Pflegeleistungen nach SGB XI benötigt, müssen sich die beteiligten Leistungsträger diese Mühe des Verschiebens und Abwiegelns gar nicht erst machen. Denn der Gesetzgeber hat die Schnittstellenproblematik zwischen Eingliederungshilfe und Pflege in den letzten Jahren nicht nur nicht gelöst. Er hat sie mit den so genannten Pflegestärkungsgesetzen II und III und mit dem Bundesteilhabegesetz (BTHG) sogar manifestiert und verschärft.
Die seit Langem von Leistungserbringerverbänden und Selbsthilfeorganisationen der Behindertenhilfe erhobene Forderung, beide Leistungsansprüche – den auf Teilhabe und den auf Pflegeleistungen – gleichberechtigt nebeneinander zu gewähren, wurde so auch im Zuge der BTHG-Einführung nicht vom Gesetzgeber (damals noch von der Groko) umgesetzt.
Und auch die Ampelregierung hat an diesem Umstand bis dato nichts geändert – und angesichts der sich stetig vergrößernden Finanzdefizite in der Pflegeversicherung und eines auf Kostendisziplin getrimmten Haushalts gibt es derzeit auch wenig Anlass zur Hoffnung, dass sich hieran in der verbleibenden Wochen der derzeitigen Bundesregierung noch etwas ändern wird.
Gegebenenfalls: Umzug ins Altenheim
Für die Lebenslage von Menschen mit Behinderung, die ihren Lebensmittelmittelpunkt in so genannten besonderen Wohnformen (= früher: stationäre Wohneinrichtungen) haben – und nur um diese geht es im Kern der folgenden Ausführungen – bedeutet dies, dass sie hinsichtlich der Beanspruchung von SGB XI-Leistungen schon qua Gesetz deutlich schlechter gestellt sind als Menschen, die „nur“ pflegebedürftig sind, und die keine Teilhabeleistungen beanspruchen – die also als Menschen „ohne Behinderung“ gelten.
Für diese sozialleistungsrechtliche Schlechterstellung von Menschen mit Behinderung, die zugleich Pflegemaßnahmen benötigen, sind insbesondere zwei Gesetzesnormen im Sozialgesetzbuch verantwortlich, die im engen Zusammenhang miteinander stehen:
- die Sonderregelung des § 43a SGB XI (Zitat: „Aufwendungen der Pflegekassen dürfen je Kalendermonat 266 Euro nicht überschreiten.“)
- und die Regelung des § 103 Absatz 1 Satz 2 SGB IX (Zitat: …ist der Mensch mit Behinderungen so pflegebedürftig, „dass die Pflege in diesen Einrichtungen oder Räumlichkeiten nicht sichergestellt werden kann, vereinbaren der Träger der Eingliederungshilfe und die zuständige Pflegekasse mit dem Leistungserbringer, dass die Leistung bei einem anderen Leistungserbringer erbracht wird.“).
Im ungünstigsten Fall kann das Zusammenspiel dieser beiden Gesetzesnormen – kurz und pointiert gefasst – also dazu führen, dass ein Menschen mit Behinderung, dessen Pflegebedarf steigt, sich eines Tages gezwungen sieht, in ein herkömmliches Altenpflegeheim umzuziehen, obwohl er das gar nicht möchte! Dann nämlich, wenn er in der besonderen Wohnform, in der er lebt, nicht mehr das (auskömmlich finanzierte) Maß an Pflege erhalten kann, das er aufgrund seiner Pflegebedürftigkeit aber benötigt.
Ein Umstand, den Akteure und Verbände der Behindertenhilfe so nicht weiter hinnehmen wollen.
Lebenshilfe-Positionspapier: Paragraph streichen
In einem Ende Januar 2024 veröffentlichten Positionspapier mit dem Titel „Für eine gute Pflege auch für Menschen mit Behinderung in besonderen Wohnformen“ fordert etwa die Bundesvereinigung Lebenshilfe die „ersatzlose Streichung von § 103 Abs. 1 S. 2 und 3 SGB IX, damit Eingliederungshilfe in besonderen Wohnformen auch in Zukunft die Pflege umfasst, unabhängig davon, wie hoch der Pflegebedarf der Menschen mit Behinderung ist und erzwungene Umzüge in eine Pflegeeinrichtung nicht mehr stattfinden.“
Die Lebenshilfe fordert darüber hinaus eine Änderung des § 43a SGB XI mit dem Ziel, dass „Menschen mit Behinderung je nach dem Anbieter der besonderen Wohnform entscheiden können, ob sie die Pflegesachleistung, ein Pflegegeld oder eine integrierte Teilhabe- und Pflegeleistung in der besonderen Wohnform in Anspruch nehmen möchten und damit endlich gleichgestellt werden mit anderen Versicherten der sozialen Pflegeversicherung.“
Eine dritte Kernforderung des Positionspapiers betrifft „Änderungen im SGB IX“. Diese sollen nach dem Dafürhalten der Lebenshilfe dazu dienen, dass „die Aufwendungen für die Pflege auch durch den Träger der Eingliederungshilfe stärker als bisher erfasst und bedarfsgerecht vergütet werden, eine umfassende Hilfeplanung tatsächlich stattfindet und der Mehrkostenvorbehalt in § 104 Abs. 2 und 3 SGB IX, der häufig verhindert, dass Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf außerhalb von besonderen Wohnformen leben können, endlich aufgehoben wird.“
Nach Berechnungen des Bundesvereinigung Lebenshilfe würden die jährlichen Mehrkosten für eine solche Änderung zulasten der soziale Pflegeversicherung zwischen 1,6 Mrd. Euro (Abruf der Pflegesachleistung) und 452 Mio. Euro (Inanspruchnahme des Pflegegelds) betragen.
Sie verweist hinsichtlich der Mehrkosten auf den Umstand der meist von Leistungsberechtigten und Leistungserbringern in besonderen Wohnformen favorisierten ,Leistungserbringung von Pflege und Eingliederungshilfe aus einer Hand‘. Hierdurch werde „voraussichtlich die Integrierte Teilhabe-Pflegeleistung oder auch die Inanspruchnahme des Pflegegeldes in aller Regel gewählt werden, weshalb zumindest in den nächsten fünf Jahren nicht mit Mehrkosten von über 500 Mio. Euro gerechnet werden muss“. Die Kosten der Eingliederungshilfe würden bei einer umfassenden Hilfeplanung voraussichtlich nicht im Umfang der Mehr-Leistung der Pflegeversicherung absinken, da aktuell die Bedarfe zumeist nicht vollständig gedeckt werden.
Mit ihren Forderungen hinsichtlich der genannten gesetzlichen Anpassungen spricht sich die Lebenshilfe dezidiert dagegen aus, dass Menschen „gegen ihren Willen in eine Pflegeeinrichtung umziehen müssen“. Solche Zwangsumzüge widersprächen dem Recht der Menschen mit Behinderung aus Art 19 der UN-Behindertenrechtskonvention, selbst zu entscheiden, wo und mit wem sie leben möchten. Mit ihrem Positionspapier fordert die Lebenshilfe, „dass Menschen, egal wo sie wohnen, bedarfsgerechte Pflege erhalten; und zwar unter Berücksichtigung ihrer Pflegegrade“.
Die bisher geltende Konzeption, wonach die Pflegeversicherung nur 266 Euro monatlich für die Pflege zahlt, sei eine der „Fehlentwicklungen an der Schnittstelle zwischen Eingliederungshilfe und Pflegeleistungen“, denen Einhalt zu gebieten sei – hierzu wolle das Positionspapier Diskussionsgrundlagen legen. Alle Akteure lädt die Lebenshilfe ein, „sich an diesem herausfordernden Umgestaltungsprozess zu beteiligen und auf der Grundlage des o. g. Vorschlags mitzudiskutieren“. Die Politik fordert sie auf, „einen partizipativen Gesetzgebungsprozess, in dem sich alle Beteiligten auf Änderungen im Sinne der Menschen mit Behinderung verständigen, in die Wege zu leiten“.1
Verband kritisiert „Ungleichbehandlung betroffener Versicherter“
Auch aus Sicht von körper- und mehrfachbehinderter Menschen ist die oben beschriebene geltende Schnittstellenkonstellation von Pflege- und Teilhabeleistungen alles andere als zufriedenstellend. Den Korrekturbedarf unterstrich der Bundesverband für körper- und mehrfachbehinderte Menschen (bvkm) jüngst in einem im Februar dieses Jahres veröffentlichten Positionspapiers mit dem Titel „Pflege in besonderen Wohnformen“. In diesem fordert der Verband, „die Personenzentrierung auch in der Pflege umzusetzen und exkludierende rechtliche Rahmenbedingungen abzubauen“. Konkret gehe es „um die Aufhebung des Mehrkostenvorbehalts in § 104 Absatz 2 und 3 SGB IX sowie um die Reform von § 43a SGB XI und § 103 Absatz 1 Satz 2 SGB IX, die die Pflege von Bewohner:innen in den sogenannten besonderen Wohnformen der Eingliederungshilfe regeln“.
Der Verband konstatiert in seinem Positionspapier, dass die „sehr geringe Leistung der Pflegekassen für pflegebedürftige Bewohner:innen in besonderen Wohnformen eine Ungleichbehandlung der betroffenen Versicherten“ darstelle und sie aufgrund der sich verändernden Bewohnerstruktur zunehmend den Kostendruck auf den Pflegeanteil in den besonderen Wohnformen erhöhe. Auch sei § 43a SGB XI mit der UN-BRK und der neuen Personenzentrierung in der Eingliederungshilfe nicht vereinbar. Der Verband fordert deshalb: „Den Bewohner:innen der besonderen Wohnformen die Leistungen bei häuslicher Pflege zugänglich zu machen.“
Ein Anstieg der Leistungen der Pflegeversicherung für die Bewohner:innen von besonderen Wohnformen dürfe dabei nicht zur Folge haben, dass sich die Träger der Eingliederungshilfe in entsprechen dem Maße aus der Finanzierung der Pflege- und Teilhabebedarfe in den besonderen Wohnformen zurückziehen. Insbesondere dürfen Leistungen zur Teilhabe hierdurch auf keinen Fall geschmälert werden, erinnert der bvkm und fordert:
- „Dass Pflegebedarfe, die von den Leistungen der Pflegeversicherung nicht gedeckt werden, von der Eingliederungshilfe umfasst bleiben und § 103 Absatz 1 Satz 1 SGB IX deshalb unverändert bestehen bleibt und
- dass im Rahmen des Gesamtplanverfahrens nach §§ 117 und 118 SGB IX auch pflegerische Bedarfe ermittelt werden, damit diese Bedarfe stärker berücksichtigt werden als bisher und sichtbar gemacht wird, dass ein Teil dieser Bedarfe – nämlich insoweit als die Pflegeleistungen zur Deckung dieser Bedarfe nicht ausreichend sind – weiterhin über die Leistungen der Eingliederungshilfe zu decken sind“.
Weil nach gegenwärtiger Gesetzeslage (§ 103 Abs. 1 Satz 2 SGB IX) ein Umzug in eine Altenpflegeeinrichtung auch gegen den Willen einer Person mit Behinderung veranlasst werden kann, wenn deren Wünsche als nicht „angemessen“ angesehen werden, fordert auch der bvkm wie die Lebenshilfe, die Streichung dieser Gesetzesnorm. Denn sie verstoße „im Zusammenwirken mit § 43a SGB XI gegen das Recht auf Freizügigkeit. Darüber hinaus bringt die Vorschrift zum Ausdruck, dass es ein unbestimmtes Ausmaß an Pflegebedürftigkeit gibt, das in besonderen Wohnformen nicht sichergestellt werden kann. Dadurch entfaltet die Regelung eine leistungsbegrenzende Wirkung.“
Im „Fazit“ seines Positionspapiers fordert der bvkm die „gleichberechtigte Teilhabe und ein selbstbestimmtes Leben für alle Menschen mit Behinderung“. Das Leben in der Gemeinschaft müsse auch Menschen mit hohem Pflege- und Unterstützungsbedarf ermöglicht werden. Zu gewährleisten sei deshalb, „dass der Teilhabe- und Pflegebedarf von Menschen mit komplexer Behinderung am gewünschten Wohnort sichergestellt wird. Die Unterbringung dieser Personengruppe in Altenpflegeheimen oder der Zwangsumzug in solche Einrichtungen sind unzumutbar“.2
Von der Schnitt- zur Nahtstelle
Zu hoffen (und zu fordern) bleibt abschließend: Dass die genannten Setzungen der Verbände in die Verhandlungen des nächsten Koalitionsvertrages einer neuen Bundesregierung Berücksichtigung finden. Und die Schnittstellenproblematiken von Eingliederungshilfe und Pflege endlich zu einer menschenrechtskonformen und robusten sozialrechtlichen Nahtstelle verwachsen!
Aus der BeWoPlaner-Redaktion
Autor: Darren Klingbeil
Foto: Pixabay
Quellenangaben
1 Positionspapier: Für eine gute Pflege auch für Menschen mit Behinderung in besonderen Wohnformen, https://www.lebenshilfe.de/fileadmin/user_upload/A4_Positionspapier_GutePflege_Alltagssprache.pdf
2 Positionspapier: Pflege in besonderen Wohnformen, https://bvkm.de/wp-content/uploads/2024/02/Pflege-in-besonderen-Wohnformen_bvkm-Positionspapier_06.02.2024-1.pdf