Inklusion – eine gesellschaftliche Querschnittsaufgabe

Noch viel Luft nach oben: Rechte behinderter Menschen in Deutschland nur zum Teil umgesetzt  

Im Oktober 2023 veröffentlichte der zuständige UN-Ausschuss das Ergebnis der 2. und 3. Staatenprüfung Deutschlands zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) hierzulande. Damit ist rund 15 Jahre nach Ratifizierung der UN-BRK in Deutschland heute festzustellen: Inklusion und der Schutz elementarer Menschenrechte von Menschen mit Behinderung sind in Deutschland auch im Jahr 2024 noch nicht gesellschaftlicher Konsens.

Es reicht eben nicht aus, wenn Selbsthilfeorganisationen, Wohlfahrtsverbände und Einrichtungsträger der Sozialwirtschaft sich glaubhaft Teilhabe, Inklusion und Leitlinien wie die Personenzentrierung auf die Fahnen schreiben und diese zunehmend konzeptionell umsetzen. Denn natürlich sind die genannten professionellen Institutionen und Akteure zuvorderst gefordert, sich neu zu definieren und ihr Leistungsportfolio so umzustellen, dass Menschen mit Beeinträchtigung sich ein möglichst normales Leben außerhalb von Sonderwelten gestalten können. Und auf den Weg dahin haben sich viele Anbieter, Wohnstätten, ambulante Dienste, Werkstätten und sonstige Dienstleister spätestens seit dem schrittweise Inkrafttreten des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) in den zurückliegenden Jahren in Deutschland auch tatkräftig und mit vorzeigbaren Erfolgen auf den Weg gemacht.

Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass diese Bemühungen, die sich eben vorwiegend im Bereich der Sozialwirtschaft abspielen, nicht ausreichen, elementare Menschenrechte von Menschen mit Behinderung hierzulande allumfassend zu schützen bzw. in allgemeine gesellschaftliche Praxis umzusetzen. Denn noch immer ist Inklusion in Deutschland offenbar noch in vielerlei Hinsicht mehr Etikett als tatsächlich gelebter gesellschaftlicher Konsens. Der oben genannte UN-Fachausschuss in Genf stellt hierzu in seinem Abschlussbericht unumwunden fest, dass Behinderung in Deutschland noch nicht als Querschnittsaufgabe auf gesellschaftlicher, staatlicher sowie rechtlicher Ebene wahrgenommen werde und diesbezüglich noch viel Bewusstseinsarbeit zu leisten sei. Besonders groß seien die Defizite in den Bereichen Teilhabe an Bildung, am Arbeitsleben (erster Arbeitsmarkt!) und an der Gesundheitsversorgung. Auch der Schutz vor Diskriminierung aufgrund von Behinderung sei in Deutschland nicht zufriedenstellend.  

Eine Zustandsbeschreibung, der sich im Nachgang der Veröffentlichung des UN-Berichts hiesige Institutionen, Verbände und auch die Behindertenbeauftragten des Bundes und der Bundesländer mit konkreten Forderungen und Erklärungen, was endlich besser zu machen und rechtlich umzusetzen sei, anschlossen.

Verband: Novelle Behindertengleichstellungsgesetz jetzt auf den Weg bringen

Aktuell forderte jüngst etwa der Deutsche Behindertenrat (DBR) Bundesregierung und Bundestag auf, eine „dringend notwendige“ Reform des Behindertengleichstellungsgesetzes (BGG) „zügig auf den Weg zu bringen, damit Menschen mit Behinderungen endlich eine Chance auf gleichberechtigte Teilhabe bekommen“. So der DBR in einer Verlautbarung vom 24. Juli 2024.1 Der Verband verweist in diesem Zusammenhang auf den oben genannten UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen, der „Deutschland im Rahmen des Staatenprüfungsverfahrens zum wiederholten Mal“ aufgefordert habe, „die bestehenden gesetzlichen Regelungen zu verschärfen und auch private Anbieter von Gütern und Dienstleistungen zur Barrierefreiheit und zu angemessenen Vorkehrungen im Einzelfall zu verpflichten“.

„Barrierefreiheit ist eine wesentliche Grundlage dafür, dass in Deutschland über 13 Mio. Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt am Leben teilhaben können. Von Barrierefreiheit profitiert die ganze Gesellschaft. Die Abschaffung baulicher, kommunikativer und digitaler Barrieren hilft auch älteren Menschen, Kindern, Eltern oder allen, die zeitweise in ihrer Mobilität eingeschränkt sind", so Verena Bentele, VdK-Präsidentin und aktuelle Vorsitzende des DBR-Sprecherinnenrats. "Deutschland liegt hinter Österreich fast 20 Jahre zurück. Dort wurde bereits 2006 die Verpflichtung Privater mit einer Übergangsfrist beschlossen. Auch international blamiert sich Deutschland. Die Zeit drängt, die Novellierung des BGG muss in dieser Legislaturperiode auf den Weg gebracht und beschlossen werden."

Der DBR hat zur von ihm angemahnten Reform ein Forderungspapier mit konkreten Änderungsvorschlägen verabschiedet. Kernforderungen sind die Verpflichtung privater Anbieter von Gütern und Dienstleistungen zur Barrierefreiheit und zu angemessenen Vorkehrungen im Einzelfall sowie Verbesserungen der Rechtsschutzmöglichkeiten.
 

NGOs: Umfassende Umsetzung der UN-BRK nicht erreicht

Gegenstand der Prüfung der Umsetzung der Behindertenrechtskonvention durch den UN-Ausschuss im Sommer 2023 war nicht nur der offizielle, von der Bundesregierung eingereichte Bericht und die damals erfolgte persönliche Befragung von Regierungsvertretern vor Ort in Genf, sondern auch der so genannte „Parallelbericht“, erstellt von einem Bündnis aus 37 deutschen Nichtregierungsorganisationen, darunter viele Verbände der Sozialwirtschaft. Der kritische Grundtenor dieses Parallelberichts lautet: Deutschland ist noch weit von einer umfassenden Umsetzung der UN-BRK entfernt. Das betrifft bspw. das Bildungssystem, den Arbeitsmarkt, das Gesundheitssystem sowie die Barrierefreiheit. Nach wie vor finde Exklusion statt Inklusion für behinderte Menschen in Deutschland statt, befand das Bündnis.

In seinem Bericht mit dem Titel „Menschenrechte jetzt!“ kritisiert es insbesondere, dass maßgebliche Rechte der UN-BRK bei weitem noch nicht umgesetzt seien, was sich insbesondere daran zeige, dass nach wie vor Gesetze verabschiedet werden, die im Widerspruch zur UN-BRK stünden. Auch finde keine systematische Überprüfung geltenden Rechts auf seine Vereinbarkeit mit der UN-BRK statt. An einer umfassenden Gewaltschutzstrategie zum Schutz von behinderten Mädchen und Frauen fehle es ebenso, und selbst die schon lange geforderten Partizipationsstandards seien nicht in Sicht.2

Bundesbeauftragter Jürgen Dusel: „Die Konvention ist nicht verhandelbar“

Mit den genannten Mängeln in der Umsetzung der UN-BRK befassten sich im April dieses Jahres auch die Behindertenbeauftragten der Länder und des Bundes im Rahmen ihres 67. Treffens in Stuttgart. Es fand vor dem Hintergrund des 15. Jahrestags der Ratifizierung der UN-BRK in Deutschland statt. Deutlich wurde, dass auch die Beauftragten des Bundes und der Länder noch viel Luft nach oben in der Umsetzung verbindlicher Menschenrechte von Menschen mit Behinderung sehen. „Sowohl der Bund als auch die Länder haben die UN-BRK vor 15 Jahren ratifiziert und sich zu ihrer Umsetzung verpflichtet – nun habe ich den Eindruck, dass manchem in Deutschland der lange Atem, den es für die Inklusion braucht, schon auszugehen droht“, erklärte Jürgen Dusel, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderung, anlässlich der Tagung. Zwar habe die Ampelkoalition zu Beginn der Legislaturperiode einen vielversprechenden Koalitionsvertrag vorgelegt, in dem viel Barrierefreiheit und Inklusion steckten, aber umgesetzt seien diese Vorhaben noch lange nicht, kritisierte Dusel und unterstrich: „Dass wir davon weit entfernt sind, hat uns die deutliche Kritik des Fachausschusses der Vereinten Nationen an unserer Umsetzung der UN-BRK sehr deutlich gemacht Die Konvention ist nicht verhandelbar, sie ist geltendes Recht. Inklusion ist ein Menschenrecht und Barrierefreiheit ist ein Qualitätsmerkmal für ein modernes und demokratisches Land.“

In der so genannten Stuttgarter Erklärung, die im Anschluss an das Treffen veröffentlicht wurde, fordert das Gremium, die Menschenrechte Behinderter endlich konsequent umzusetzen, insbesondere:

  • „Recht auf selbstbestimmtes Wohnen (Art. 19 UN-BRK): Fast die Hälfte aller Menschen mit Behinderungen in Deutschland, die Leistungen zum Wohnen beziehen, leben in Sondereinrichtungen. Menschen mit Behinderungen müssen selbst entscheiden können, wie, wo und mit wem sie leben wollen. Dazu gehört ein ausreichendes Angebot an barrierefreiem und bezahlbarem Wohnraum sowie die Weiterentwicklung von ambulanten Unterstützungsangeboten. Der notwendige systemische Wandel zu dezentralen, individuellen Wohnformen, insbesondere für Menschen mit hohem Assistenzbedarf, muss konsequent vorangebracht werden.
  • Recht auf körperliche und seelische Unversehrtheit, Schutz vor Gewalt und Missbrauch (Art. 14, 16, 17 UN-BRK): Die Gewaltprävalenz gegen Menschen mit Behinderungen ist besorgniserregend. Es bedarf einer ressortübergreifenden, praxisgerechten und wirksamen Gewaltschutzstrategie, die den besonderen Bedürfnissen von Menschen mit Behinderungen Rechnung trägt. Der Schutz muss intersektional sein und Lücken im Gewaltschutz, in der eigenen Häuslichkeit wie in Institutionen zeitnah schließen. Der Bund wird aufgefordert, das Gewaltschutzgesetz noch in dieser Legislaturperiode zu reformieren.
  • Ablehnung von Zwang (Art. 12, 14, 15, 16 UN-BRK): Alle Menschen haben ein Recht auf ein Leben frei von Zwang. Menschen mit Behinderungen, insbesondere mit psychosozialen Beeinträchtigungen und hohem Assistenzbedarf, sind in höherem Maße verschiedenen Formen von Zwang ausgesetzt, z.B. unfreiwillige Behandlung oder Unterbringung sowie freiheitsentziehende Maßnahmen, die erhebliche Eingriffe in die körperliche und seelische Autonomie darstellen. Gesetze, die die Anwendung von Zwang und Freiheitsentzug, in der Psychiatrie, Eingliederungshilfe und Kinder- und Jugendhilfe vorsehen, müssen in Einklang mit den menschenrechtsbasierten Bestimmungen der UN-BRK gebracht werden.
  • Partizipation auf allen staatlichen Ebenen: Menschen mit Behinderungen müssen an allen politischen Entscheidungen, die sie betreffen, von Beginn an beteiligt werden. Die Umsetzung in der Verwaltungspraxis und Gesetzgebung ist noch nicht ausreichend gewährleistet und dadurch unzulänglich. Die Beteiligungsstrukturen und Rahmenbedingungen der Beteiligung müssen weiterentwickelt, verbindlich geregelt und eingehalten werden.“3

Viel zu tun!

Der Handlungsauftrag, der aus dem UN-Abschlussbericht zur Umsetzung der UN-BRK abzuleiten ist, lässt keinen Zweifel zu: Deutschland muss mehr tun, mehr Reformen anstoßen, mehr gesetzgeberische Gestaltungskraft entwickeln, damit der Inklusion und dem Schutz der Menschenrechte, auch von Menschen mit Behinderung, in allen gesellschaftlichen Bereichen der Durchbruch gelingt. Und die, denen diese Aufgaben ins Pflichtenheft geschrieben sind, lassen zumindest erkennen, dass sie sich dieser noch nicht erledigten Aufgaben bewusst sind – auch wenn sie sich naturgemäß schon viel weiter auf dem Weg hin zu einer inklusiven Gesellschaft sehen, als dies die genannten Kritikerinnen und Kritiker tun.

Dies wird in einer Mitteilung aus dem Bundesarbeitsministerium (BMAS) vom August 2023 deutlich, derer zufolge Deutschland bei der Umsetzung der UN-BRK bereits „auf einem gutem Weg“ sei. In der Anhörung durch den UN-Fachausschuss im Rahmen der Staatenprüfung Ende August 2023 sei demnach deutlich geworden, betont das Ministerium, „dass Deutschland seit der letzten Staatenprüfung 2015 viel auf dem Weg zu einer inklusiven Gesellschaft erreicht hat. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales wurde ausdrücklich für das besondere Engagement bei der Umsetzung der UN-BRK gelobt. Zudem wurde mehrfach die Vorreiterrolle Deutschlands unter den Vertragsstaaten angesprochen, insbesondere bei Menschenrechten und Diversität“, so das BMAS. Kritische Rückfragen hätten sich vor allem auf die Themenbereiche Bewusstseinsbildung, Disability Mainstreaming, Barrierefreiheit im privaten Sektor, rechtliche Betreuung, Zwangsmaßnahmen und Freiheitsentziehung, Gewaltschutz, den Umgang mit geflüchteten Menschen mit Behinderungen, Deinstitutionalisierung, inklusive Bildung und die gleichberechtigte Teilhabe am Arbeitsleben konzentriert.

Bleibt zu hoffen, dass beim vollmundigen Betonen dessen, was (vermeintlich) schon erreicht ist, die aktuelle und künftige Regierungen sich nicht geflissentlich selbst darüber hinwegtäuschen, wie viele Inklusions-Baustellen es tatsächlich noch gibt. Menschen mit Behinderung sind mit diesen nämlich tagtäglich konfrontiert.  

Aus der BeWoPlaner-Redaktion
Autor: Darren Klingbeil
Foto: Adobe Stock

Infos zur UN-BRK

Zur Entstehung und rechtlichen Relevanz der UN-Behindertenrechtskonvention fasst das Deutsche Institut für Menschenrechte auf seiner Homepage zusammen:

„Das ,Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen‘ (UN-Behindertenrechtskonvention, UN-BRK) wurde am 13. Dezember 2006 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet. International ist es am 3. Mai 2008 in Kraft getreten, nachdem es 20 Staaten ratifiziert hatten. Die Bundesrepublik Deutschland hat die UN-BRK am 24. Februar 2009 ratifiziert. Nach den Regularien der Konvention trat sie am 26. März 2009 in Deutschland in Kraft und ist seitdem geltendes Recht in Deutschland, welches von allen staatlichen Stellen umgesetzt werden muss. Die UN-BRK ist keine Spezialkonvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen, sondern sie konkretisiert die bereits anerkannten allgemeinen Menschenrechte aus anderen Menschenrechtsübereinkommen auf die Situation von Menschen mit Behinderungen. Hintergrund für das Entstehen der Konvention war die weltweite Erfahrung, dass Menschen mit Behinderungen nicht ausreichend vor Diskriminierung und Ausgrenzung geschützt worden sind – und immer noch werden.“